Interview

Experte vom KIT: „Hagelsturm 1995 war nur für die Ketscher ein Jahrhunderereignis“

Michael Kunz vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) erklärt im Interview, wie es zum Hagelereignis 1995 in Ketsch kommen konnte und warum es eine Ausnahme bleiben dürfte.

Von 
Jörg Runde
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Erhebliche Schäden: Die Goethestraße in Ketsch nach der Hagelkatastrophe 1995. © Archiv

Ketsch. Es ist ein Ereignis, das wohl noch bis heute in den Köpfen der Ketscher seinen Platz hat: Am 22. Juli 1995 tobte ein großes Unwetter über der Enderlegemeinde, hühnereiergroße Hagelkörner sorgten im ganzen Ort für erheblichen Schaden. Nun, 30 Jahre später, spricht Wetterexperte Michael Kunz vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) über die Vorkommnisse von damals und erklärt, warum diese eine Ausnahme bleiben könnten.

Herr Kunz, ist Ihnen das Hagel-Ereignis von Ketsch 1995 ein Begriff?

Michael Kunz: Ja, das ist es tatsächlich, denn es sticht in den Schadenstatistiken der Versicherungen deutlich hervor. Betroffen waren an dem Tag aber auch andere Städte und Gemeinden wie Heidelberg oder Schwetzingen.

Und wo war es am Schlimmsten?

Kunz: Der Schadengrad und die Schadensumme an Gebäuden in Ketsch waren wirklich am höchsten.

Können Sie da Zahlen nennen?

Kunz: Insgesamt gab es in Baden-Württemberg am 22. Juli 1995 über 30.000 Schadenmeldungen mit einer Schadensumme von über 100 Millionen Euro. In Ketsch alleine wurden über 2.500 Gebäude beschädigt, mit einem Schaden von über 35 Millionen Euro. Also wirklich ein schweres Ereignis.

Eiergroße Hagelkörner sind 1995 auf die Enderlegemeinde niedergegangen. © Archiv

Wahnsinn. Ist das ein Allzeitrekord?

Kunz: Nein, in der Zwischenzeit konnten wir Schadenereignisse beobachten, die im Milliardenbereich lagen.

Liegt das vor allem am Hagel?

Kunz: Schwergewitter allgemein, aber Hagel im Besonderen sind im süddeutschen Raum die größten Schadensverursacher an Gebäuden.

Ist das Rheintal eigentlich ein Hagel-Hotspot?

Kunz: Nein, das Rheintal ist sogar mit am wenigsten gefährdet.

Wirklich?

Kunz: Ja, tatsächlich. Wenn Sie die Statistik anschauen, sehen Sie, dass das Rheintal nur selten von Hagel betroffen ist.

Das Hagel-Unwetter über Ketsch war eher eine Ausnahme?

Kunz: Ja. Aber erwischen kann es die Region trotzdem. Die Wetterlage damals war so eine ganz klassische für ein starkes Unwetter.

Das bedeutet?

Kunz: Es war ein Tag mit Temperaturen so um die 30 Grad Celsius aufgrund einer vorherrschenden Südwestströmung. Am 22. Juli schob sich von Westen eine Kaltfront in das Gebiet, die dazu führte, dass mehrere schwere Gewitter ausgelöst wurden.

Das muss für ein Gewitter also gegeben sein?

Kunz: Es sind vor allem zwei Dinge, die für Gewitterlagen maßgeblich sind. Zunächst muss eine feuchtwarme Luftmasse vorherrschen. Das war an dem Tag gegeben. Und dann wird ein Mechanismus benötigt, der das Ganze zum Auslösen bringt. Ideal ist dabei ein kleines Luftdruckgebiet oder eine Front, vor allem eine Kaltfront. Das hatten wir an dem Tag alles vorliegen, also eine gefährliche Kombination, die auch zu sogenannten Superzellen führen kann.

Superzellen bedeuten also eine größere Hagelgefahr?

Kunz: Eine Superzelle ist einfach eine große Gewitterzelle, die rotiert. Das macht die Superzelle so einzigartig. Superzellen sind die, die den größten Hagel hervorbringen, aber auch mit Starkregen, orkanartigen Windböen und manchmal mit einem Tornado einhergehen.

Michael Kunz vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) erklärt, warum das Hagelereignis 1995 für ihn etwas Besonderes war. © Michael Kunz

Sie haben ja gesagt, das Rheintal sei eigentlich nicht so gefährdet. Ist es dann schon außergewöhnlich, dass es damals so geknallt hat in Ketsch?

Kunz: Natürlich gibt es auch im Rheintal Hagel-Ereignisse. Südlich von Stuttgart und im Neckartal kommen sie aber deutlich öfter vor.

Warum gerade dort?

Kunz: Tatsächlich haben wir dort mehr Feuchtigkeit im Vergleich zum Rheintal. Dazu spielt auch eine Erhebung wie der Schwarzwald eine wichtige Rolle. Der liegt ja geographisch davor. Die Luftmassen ziehen da teilweise um die Erhebungen herum.

Welche Rolle spielt denn der Klimawandel?

Kunz: Die Temperatur hat infolge des Klimawandels stark zugenommen; für die Gewitterentstehung ist aber weniger die Temperatur, sondern vor allem die Luftfeuchtigkeit entscheidend, denn die bestimmt letztlich die Energie für die Gewitter. In Stuttgart beispielsweise hat die Gesamtluftfeuchtigkeit in den letzten 30 Jahren im Sommer ungefähr um 15 Prozent zugenommen. Das ist schon wirklich sehr viel. Das erklärt auch schon, wieso es immer mehr Regenereignisse mit extrem viel Niederschlag gibt. Es ist einfach mehr Luftfeuchtigkeit da.

Das bedingt auch eine Zunahme an Gewittern?

Kunz: Nicht unbedingt. Die Feuchtigkeit ist die Energie für ein Gewitter. Wenn es zur Kondensation kommt, wird Wärme freigesetzt, die dafür sorgt, dass in den Gewittern sehr hohe Aufwindgeschwindigkeiten teilweise bis über 200 Kilometer pro Stunde auftreten. Durch die Zunahme der Luftfeuchtigkeit würde man also erwarten, dass die Häufigkeit der Gewitter auch zu nimmt. Tatsächlich können wir das in den letzten 20 Jahren nicht beobachten. Die Anzahl der Gewittertage, bestimmt aus Blitzdaten, ist nicht gestiegen, möglicherweise hat aber die Intensität der Unwetter zugenommen.

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Und die Hagelereignisse?

Kunz: Bei Hagel ist das Problem, dass es in Deutschland keinerlei direkte Messungen gibt. Das liegt vor allem daran, dass Hagel meist nur sehr kleinräumige Flächen betrifft, so dass für eine vollständige Erfassung des Hagels sehr viele Beobachtungsstationen benötigt werde würden. Wir können aber indirekt aus bestimmten Signalen in Radar- oder auch Satellitendaten auf Hagel schließen – aber mit einer gewissen Unsicherheit. In unseren Analysen basierend auf Radardaten haben im Süden Deutschlands die Hagelereignisse leicht zugenommen, insgesamt für Deutschland aber nicht. Vermutlich hat aber die Hagelkorngröße zugenommen – zumindest deuten darauf einige Hagelbeobachtungen und auch die Analyse von Versicherungsdaten hin. Aufgrund der fehlenden direkten Beobachtungen können wir das aber nicht mit absoluter Sicherheit sagen.

Würden sie den Hagelsturm von Ketsch eigentlich als Jahrhundertereignis bezeichnen.

Kunz: Der Hagelsturm 1995 war nur für die Ketscher und die Menschen in der Region ein Jahrhundertereignis. Für Baden-Württemberg insgesamt betrachtet aber eher nicht. Da gab es deutlich schlimmere Hagelereignisse wie beispielsweise am 28. Juli 2013 mit Schwerpunkt in Reutlingen, mit einer Schadensumme im Milliardenbereich.

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