Neulußheim. Die Einweihung des Bahnhofs am 4. August 1870 und damit der Anschluss des Ortes an die Rheintalbahn war eine der wichtigsten oder sogar bedeutsamsten Änderungen der Neulußheimer Ortsgeschichte. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es für Reisende eine tägliche „Omnibusverbindung“ mit dem Pferdewagen von Speyer über Hockenheim und Reilingen nach Wiesloch. Bis zur Eröffnung des Neulußheimer Bahnhofs war die drei Stunden entfernte Bahnstation Wiesloch an der Bahnstrecke Heidelberg-Karlsruhe der nächste Bahnhof.
Als Bürgermeister Julius Engelhorn am 4. August 1870 mit den Dorfhonoratioren den schmucken Bahnhof einweihte, konnte er nicht ahnen, was das für die Zukunft und Weiterentwicklung der kleinen Gemeinde bedeuten würde. In der Kirchengeschichte, in einem Bericht von Pfarrer Friedrich Gscheidlen, schrieb er: „Wie ärmlich stand das Dorf da, als ich 1859 die hiesige Pfarrstelle antrat. Die elenden, zum Teil zerfallenen Häuser und Hütten waren sprechende Beweise der herrschenden Dürftigkeit. Die Taglöhner – und das war die weitaus größte Anzahl der Einwohner – fanden damals Beschäftigung in der Zuckerfabrik in Waghäusel, zu einer gewissen Jahreszeit auch die Mädchen, welche besonders zum Dörren der Rüben, verwendet wurden. Der Lohn, den die Leute verdienten, war ein sehr bescheidener.“
Schnelle Aufwärtsentwicklung
Als im Jahr 1870 der Anschluss an die Bahnstrecke Mannheim-Karlsruhe eingeweiht wurde, eröffnete die neue Verkehrsmöglichkeit den Neulußheimern nicht nur die Verbindung zu den Fabrikarbeitsplätzen in Mannheim, sondern war auch die Voraussetzung für die Entfaltung der hiesigen Zigarrenindustrie. Zunächst erlernten zwölf Neulußheimer Männer und Frauen in den Reilinger Fabriken Ritzhaupt und Straßburger das Zigarrenmachen. Fünf von ihnen arbeiteten dann bei Peter Schneider, der schon seit 1857 in Altlußheim mit 18 Mitarbeitern Zigarren herstellte. Am 28. Januar 1871 verlegte er die Produktion nach Neulußheim in das Haus Christian Schwesinger, wo 1868/69 die Mannheimer Fabrik Freundlich kurzfristig mit 36 Arbeitern produzierte.
Die Einwohnerzahl von Neulußheim betrug 1870 gerade mal um die 1000 Bewohnern in etwa 230 Haushalten. Bis 1910 waren es bereits über 2000 Einwohner in 417 Haushalten. Während die Einwohner bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts zum größten Teil aus Kleinbauern und Taglöhnern bestanden, lebten nach 1870 nur noch 15 Familien ausschließlich von der Landwirtschaft. Alle anderen Einwohner waren in der Industrie oder bei der Eisenbahn tätig. In Neulußheim selbst gab es acht Zigarrenfabriken, die wohl über 400 Arbeiter beschäftigten. Die anderen Industriearbeiter verdienten ihr Geld in auswärtigen Fabriken, zumeist in Rheinau oder Mannheim.
Versorgung der Bevölkerung
Mit der Industrialisierung entstanden in der Gemeinde auch zahlreiche Lebensmittel- und Kolonialwarengeschäfte, die die Versorgung der Bevölkerung übernahmen. Somit entwickelte sich im Ort ein bescheidener Wohlstand. So konnte sich die Gemeinde einen Kindergarten, neue Schulhäuser, ein richtiges Rathaus und eine stattliche Kirche leisten.
Bis in die Gegenwart ist der Neulußheimer Bahnhof ein wichtiger und zentraler Bestandteil der Gemeinde. In den 1960er Jahren diskutierte man im Neulußheimer Gemeinderat über die Beseitigung des schienengleichen Bahnübergangs, der zu langen Wartezeiten und langen Autokolonnen bis über die Kreuzung in der Ortsmitte führte. Viele Neulußheimer erinnern sich noch gut daran, wenn auf dem Friedhof die Trauerfeier deshalb nicht pünktlich beginnen konnte, weil der Pfarrer auf der anderen Seite der Schranke noch die Zugdurchfahrt abwarten musste – und das konnte dauern.
Die 1970 vereinbarte Unterführung wurde durch die Neuanlage der Rheintalbahnlinie beim Bau der Schnellbahnstrecke Mannheim-Stuttgart hinfällig. Der Verkehrsverband mit Schnellbahn, Rheintalbahn und neuer Bundesstraße 36 verläuft nun seit dem 1. September 1986 eingesenkt 100 Meter östlich der alten Bahngleise. Die Einweihung des neuen Bahnhofs erfolgte am 14. September 1986, verbunden mit einem großen Dorffest, das gleichzeitig an die vor 275 Jahren erfolgte Gründung Neulußheims 1711 erinnern sollte. Heute ist der „Alte Bahnhof“ ein Schmuckstück der Gemeinde. 1992 wurde er renoviert und zum Kulturtreff „Alter Bahnhof“ umgebaut. Im ehemaligen Wartesaal wartet man heute auf Vernissagen, Ausstellungen und Kulturveranstaltungen und kann sich im Museum des Heimatvereins über die Geschichte Neulußheims informieren. Legendär die vom Kulturamt veranstalteten Sonntagsfrühschoppen, die mittlerweile Kult sind. Da, wo früher die Bahngleise lagen, steht heute hinter dem Gebäude ein alter Güterwaggon mit einer kleinen Bühne. Ein alter Schienenstrang erinnert an die damaligen Zeiten. Der alte Signalkeller im Untergeschoss des Alten Bahnhofs lädt bei Nutzung zum Verweilen und zu kleinen Veranstaltungen ein. Im Obergeschoss probt der Frauenchor „Women’s Voice“. In dem ansprechenden Raum werden auch standesamtliche Trauungen vorgenommen.
34 Jahre nach Einweihung des Neuen Bahnhofs, der in einer Architektenzeitschrift als einer der futuristischsten und modernsten Bahnhöfe Deutschlands gelobt wurde, haben die Neulußheimer noch gut im Ohr, als die Bahnverantwortlichen bei der Einweihung versprachen, „dieser Bahnhof bekommt noch einen behindertengerechten Zugang zum Bahnsteig.“ Das ist lange her, aber immer noch ein gefordertes Anliegen an die Bahn.
Eine große Anzahl von Bürgern, auch aus den Nachbargemeinden, nutzen heute den Neulußheimer Bahnhof. Ein großzügig angelegter Pendlerparkplatz und abschließbare Fahrradboxen bieten den Nutzern einen sicheren Platz. Der Bahnhof ist dazu noch ein Knotenpunkt mit mehreren Busverbindungen.
Was wären Jubiläen und Geburtstage ohne das passende Geschenk. So sind wir gespannt, ob uns die Bahn damit überrascht, im Jubiläumsjahr zwei funktionsfähige Fahr-stühle für den barrierefreien Zugang zu den Bahnsteigen in Betrieb zu nehmen. Bezahlt von der Gemeinde Neulußheim.
Fortschrittliche Fortbewegung
Während Bürgermeister Julius Engelhorn vor 1870 seine Dienstreise nach Mannheim mit dem Pferdefuhrwerk machen musste und Stunden unterwegs war, benötigt Bürgermeister Gunther Hoffmann, wenn er seinen Dienstwagen stehen lässt, im Jubiläumsjahr „150 Jahre Bahnhof Neulußheim“ nur noch 20 Minuten mit der Regionalbahn nach Mannheim. Was für ein Fortschritt.
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