Oftersheim. Wir treffen uns in einem hellen Rathausraum. Ute Walter, Leiterin des Seniorenbüros und nebenbei Organisatorin von Ausstellungen und der Konzertreihe „Musik im Park“, Karl-Heinz Bitz vom Pflegestützpunkt Rhein-Neckar-Kreis, und ich als Medienmann. Schon vorher ist klar: Das umfassende Thema Pflege in unserer Gesellschaft der Älteren lässt sich nicht in einer halben Stunde abhandeln, denn die Zahl derjenigen Menschen, die pflegebedürftig sind oder werden, wächst und wächst. Das hängt mit der demografischen Entwicklung und der immer breiter werdenden Alterspyramide zusammen.
„Ich könnte hier einziehen“, sagt Karl-Heinz Bitz von der Beratungsstelle Hockenheim, „Oftersheim ist mit der stärkste Standort in meinem Gebiet mit einem großen Netzwerk.“ Bitz kennt die Materie genauso wie Ute Walter aus dem Effeff. Beide leben das. Seit knapp eineinhalb Jahren, damals noch unter Pascal Seidels Vorgänger Jens Geiß, wurde in „Ofdasche“ eine Sprechstunde eingeführt, die einmal in der Woche im Rathaus angeboten wird. Nach Terminvereinbarung. Und weil das nicht reicht, macht Bitz auch Hausbesuche, um sich ein Bild von der Lebenssituation und den betroffenen Personen zu machen. Für die Bürger sei es „ein Glück, dass es dieses Angebot gibt“, betont Ute Walter. Häufig sei es so, dass eine Zäsur erfolgt ist. Ein einschneidendes Erlebnis, Krankheiten, Unfälle, Bedürftigkeit im Alltag. Plötzlich oder auch schleichend könne im Leben alles anders sein. „Es gibt immer mehr ältere Menschen und diese Menschen werden auch immer älter“, sagt Bitz lakonisch, „der Bedarf an neutraler, unabhängiger und kostenloser Beratung ist deutlich gestiegen. Ich habe eine große berufliche Bandbreite und sehe beispielsweise sofort, ob jemand richtig im Rollstuhl sitzt oder nicht.“
Woher kommt das? Der 54-jährige Mann aus St. Leon hat ursprünglich ein Praktikum im Psychiatrischen Zentrum Nordbaden (PZN) in Wiesloch gemacht. Als gelernter Krankenpfleger, mit klassischer Ausbildung und heutigem Diplom, als Pflegedienstleiter und Case-Manager DGCC, als Berater im Pflegestützpunkt seit 2016, als Mitarbeiter eines Sanitätshauses in Heidelberg, als Gutachter im AOK-Logistik-Center Eppelheim sowie als Healthcare-Spezialist beim Hersteller für Hilfsmittel „Invacare“ hatte er alle Seiten und Facetten des unendlichen Themas Pflege kennengelernt.
Zu seinem Erfolgsgeheimnis gehört es zweifellos, dass er „von der Praxis für die Praxis“ denkt und handelt, als Typ sehr nahbar und verbindlich rüberkommt, anpassungsfähig ist und Gespräche auf Augenhöhe mit den Pflegebedürftigen führt. Oft hilft ihm sicherlich das sprachliche Instrument des Kurpfälzer Dialekts.
„Herr Bitz sieht bei seinen Hausbesuchen das Umfeld. Er weiß, was genau im Einzelfall zu machen ist“, berichtet Ute Walter, die engmaschig und kontinuierlich mit dem Standort Hockenheim, zu dem neben der Rennstadt die Gemeinden Oftersheim, Altlußheim, Neulußheim, Reilingen, Schwetzingen, Ketsch, Brühl, Plankstadt und Eppelheim gehören, zusammenarbeitet.
Mitunter würden gerade ältere Menschen bei Anrufen im Seniorenbüro sagen: „Frau Walter, alleine dass ich ihre Stimme gehört habe, tut mir gut.“ Das mag das seelsorgerische, psychologische Momentum sein, doch in den allermeisten Fällen reicht das nicht. Vielmehr geht es um eine schonungslose Bestandsanalyse, Handlungsmaximen und niederschwellige Hilfestellungen. Welche Unterstützungsmöglichkeiten existieren überhaupt? Was ist in welchem Fall adäquat? Wie und wo kann ich Pflegeleistungen und Betreuungsbedarf beantragen? Welche juristischen und finanziellen Aspekte gilt es zu berücksichtigen? Wie verhält es sich mit kurz-, mittel- und langfristigen Lösungen im Bereich der Prävention und Rehabilitation? Was müssen die Angehörigen, etwa von Demenzkranken, alles wissen und im Umgang beachten?
Pflege ist ein ganz weites Feld. Papiere helfen den Menschen nicht, es gehe vielmehr um Lebensqualität, Würde, Dankbarkeit, Freude sowie die Gabe von allen Seiten, Frieden mit der Situation zu finden und zu machen, wie es Walter und Bitz unisono und handfest beschreiben.
Wer benötigt Hilfe? MS-Patienten, die mit 40 Jahren psychisch krank sind und für die kein Kurzzeitpflegeheim für junge Menschen gefunden wird. Um Krebspatienten, die mit Mitte 60 einen Katheter gelegt bekommen haben, mit Schmerzen oder womöglich gar wegen eines Dekubitus mit einer Sepsis konfrontiert sind und alleine Zuhause „total überfordert“ (Walter) seien. Um alte Menschen, so zynisch es klingt, bei denen sich Ratten durch den Fußboden fressen und die schlichtweg verwahrlosen. Um Demenzpatienten, deren Fallzahl sichtlich steige und bei denen die Überforderung in der Familie zu spüren sei. „Beruf und Pflege sind dann unvereinbar“, plädiert Bitz für externe, professionelle Unterstützung.
Erschwerend komme längst folgendes Phänomen hinzu: „Es gibt zunehmend weniger Pflegedienste (Anm. der Red.: Langjähriges Bestehen der Dienste, Rente von Inhaber und Personal, Berufswechsel) und zu viele Patienten“, konstatiert Bitz ernüchternd. Angefangen von Putzfirmen, Haushalts- und Nachbarschaftshilfen, Sozialstationen, Pflegedienste, über Pflege- und Altenheime bis hin zu alters- und situationsgerechten Wohnprojekten – überall fehle es an Strukturen und qualifiziertem Fachpersonal. „Pflegedienste müssen Patienten kündigen, weil sie chronisch unterbesetzt sind. In den letzten Jahren haben einige davon im Rhein-Neckar-Kreis einfach dichtgemacht“, berichtet Bitz vom Pflegestützpunkt, der die zentralen Beratungsstellen Hockenheim, Wiesloch, Weinheim, Neckargemünd und Sinsheim umfasst und seit 2010 existiert.
Beratung bei Pflege: Finanziert von allen 54 Kommunen
Der „Kreis“ hat seine personellen Ressourcen fast verdreifacht. Von ursprünglich fünf sind es nun insgesamt 14 Mitarbeiter, die in der Beratung tätig sind. Finanziert wird das gesamte Projekt von allen 54 Kommunen sowie gesetzlichen Krankenkassen, die als Träger und Unterstützer fungieren. Aus einem Topf werde das Geld genommen, so Bitz.
Zusehends dramatischer gestaltet sich die Lage in der Alten-, Kranken- und Rehabilitationspflege. Laut den Erfahrungen von Karl-Heinz Bitz fällt der psychosoziale Bereich herunter, da die Zeit und Vergütungen es nicht zulassen. Er habe selbst im ambulanten Bereich gearbeitet, früher wäre es möglich gewesen, mit den Patienten mal eine Tasse Kaffee zu trinken. Mit Einführung der Pflegeversicherung 1995 habe sich dies verändert, wenngleich diese andererseits viel Positives mit sich gebracht habe. Zu wenig Personal stoße auf die Anzahl der zu betreuenden Patienten, teilweise seien es zwei Kräfte für 30 Bewohner. Krass. „Das Personal ist nur am Rennen und im Stress – das ist ein Teufelskreis“, sagt er. Personal werde deshalb aus Vermittlungsagenturen rekrutiert. „Das sind oft Leasingkräfte, die nur von Montag bis Freitag arbeiten“, schildert Ute Walter, „wie soll man das den eigenen und etatmäßigen Leuten noch vermitteln?“
Wo viel Schatten ist, muss viel Licht verborgen sein. In Schwetzingen gibt es Gesprächskreise und informative Veranstaltungen für pflegende Angehörige. In Oftersheim ein Projekt namens Demenzcafé „Vergiss-mein-nicht“, bei dem Ute Walter und Karl-Heinz Bitz gerne zu Gast sind. „Da geht es darum, den Menschen Freude zu schenken und die Angehörigen ein wenig zu entlasten“, so Walter. Bitz packt dann mal sein Akkordeon aus und spielt Volkslieder: „Musik ist mein eigenes Ding. Es ist für mich eine willkommene Abwechslung und schön, wenn die Menschen mitsingen.“
Elisabeth Groß vom TSV Oftersheim leitet seit vielen Jahren eine Rollatoren-Trainingsgruppe. Mit großem Engagement, mit bemerkenswerter Empathie. „Aktiv im Alter“ heißt eine Initiative in Neulußheim. „Gemeinsam statt einsam“ läuft über die evangelische Kirchengemeinde in Altlußheim. Seniorennachmittage von Kirchen und Kommunen, der Bürgerbus in Plankstadt, karitative Organisationen – unzählige Dienstleister und Ehrenämtler sorgen für ein umfangreiches Serviceangebot. Und und und. „Man kann viel machen“, sagt Bitz.
Walter und Bitz blicken mit einer Jetzt-erst-recht-Haltung konstruktiv in die Zukunft. „Moderne Wohnformen“ halten sie für eine lohnenswerte Alternative, in gut ausgestattetem Umfeld eigenständig zu bleiben und doch Gemeinsamkeit zu pflegen. Warum soll es in der Region und in Deutschland nicht mehr Mehrgenerationenhäuser und bezahlbare altersgerechte Wohngemeinschaften geben?
Mehrgenerationenwohnen und Inklusion
Der Verein „Smile“ wurde in St. Leon bereits vor 17 Jahren gegründet. Dieser spricht sich explizit für Mehrgenerationenwohnen, Inklusion, nachbarschaftliche Hilfestellung und Offenheit als zeitgemäße, zukunftsorientierte Wohnform aus. „Smile“ schafft Raum für Privatsphäre und Gemeinschaftsleben – ein synergetisches Modell, das stellvertretend Beachtung auslösen könnte. „Es muss solche Wohnformen geben wie in Holland“, sagt Ute Walter, „und in unseren Schulen flächendeckend das Unterrichtsfach Glück.“ Kurzum: Ältere und kranke Menschen haben unseren Respekt und unsere Aufmerksamkeit einschließlich sinnvoller Pflege verdient.
Derweil verlässt Karl-Heinz Bitz freundlich grüßend das helle Seniorenbüro im Rathaus. Es gäbe noch viel zu besprechen. Doch ein Hausbesuch ruft. An einem dieser intensiven Donnerstage.
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