Oftersheim/São Paulo. Die Oftersheimerin Katrin Bugert (kleines Bild) lebt und arbeitet im São Paulo in Brasilien. Zusammen mit Kolleginnen arbeitet die Waldorfpädagogin beim „Circo Ponte das Estrelas“ („Zirkus Sternenbrücke“) für Jugendliche von zwölf bis 18 Jahren, auch eine Tagesstätte für jüngere Kinder gehört dazu. Das Projekt soll Kindern aus der sozialen Unterschicht eine Zukunftsperspektive bieten. Die jungen Leute lernen nicht nur Disziplin und Fleiß, sondern auch zusammenzuarbeiten. Jedes Jahr besucht Katrin Bugert über die Weihnachtsfeiertage ihre Eltern in der Hardtgemeinde und bringt auch den Jahresbericht vom „Circo Ponte das Estrelas“ mit. An diesem Dienstag fliegt sie zurück nach Brasilien - in ein Land, das von der Corona-Pandemie betroffen ist wie kaum ein anderes. Hier ist der Bericht, den ihre Kollegin Regina Klein geschrieben hat:
Jugendliche Artisten
Im Schatten des Baumes, an der hinteren Mauer unserer Garage, sitzen jugendliche Artisten mit Gitarren auf dem Schoss. Katrin spielt Geige, Regina Flöte, Celia führt die Kinder an der Hand bis zu der Krippe und dem Baum, der mit seinen Lichtern trotz hellem Sonnenlicht freundlich glitzert. Claudio, Celiane, Rosangela, Lais, Izilda, unsere Gruppenerzieher, stehen an den Tischen, die mit bunten Tüchern und Geschenken geschmückt sind. Heute ist der erste Tag unserer Kinder in der Tagesstätte seit vielen Monaten. Wir haben alle Masken an und die Kinder sehen anders aus. Manche sind extrem gewachsen, andere sehr dünn, viele ernst und schüchtern. Doch ihre Augen glänzen. Alle spüren, dass dieser kurze Moment im Jahr an Weihnachten für jedes dieser Kinder von übergroßer Bedeutung ist - und für uns auch.
Kein Wunder, dass die emotionale Spannung riesig ist. All unsere Liebe und Fürsorge hat sich in Monaten angestaut - und die Erwartung der Kinder, die in den vier Wänden ihrer Hütten oder den Ein- bis Zwei-Zimmer-Blockhütten an den Favelahängen eingesperrt waren, ist enorm.
Was ist das bloß für ein Jahr, das wir da vollbringen? Gerade hatte sich der Tagesstätten- und Zirkusalltag eingestellt, hatten sich die „alten“ Kinder wieder eingewöhnt und waren die neu matrikulierten Kinder (mit der Öffnung der neuen Gruppen der Sterntalerkrippe in diesem Jahr sehr viele) angekommen, da wurde vom brasilianischen Gesundheitsministerium und Ministerium für Erziehung und Bildung bekannt gegeben, dass alle Schulen und Einrichtungen geschlossen würden - auf unabsehbare Zeit. Das war im März 2020.
Wir verpackten noch alle frischen Lebensmittel und die beim Großeinkauf erworbenen Früchte in kleine Pakete und gaben sie den Kindern mit nach Hause. Natürlich hatte niemand damit gerechnet, dass diese Situation so lange anhalten würde.
In Brasilien wütet die Corona-Pandemie noch immer schlimm. Jeden Monat gibt es neue Schreckensnachrichten, die Zahlen der Neuinfizierten und der Todesfälle schnellen in die Höhe. Die politischen Reaktionen füllen die ganze Bandbreite sich widersprechender Aktionen. Zum Jahresende fanden Wahlen der Ländergouverneure und Bürgermeister statt. Shopping Center wurden geöffnet, an den Stränden tummelten sich Badegäste. Bars und Restaurants öffneten - zunächst mit Einschränkungen, doch dann wurde immer mehr freigegeben.
Kranke und Sterbende kamen in Isolation. Es fehlte an Ärzten, Intensivstationsbetten, Material, Geräten, Struktur, Organisation. Patienten verstarben in stundenlangen Reisen im Krankenwagen auf der Suche nach einem freien Bett, Friedhöfe öffneten Massengräber. Im Bundesstaat São Paulo waren bis 23. Dezember 45 800 Todesfälle und rund 1,4 Millionen Kranke im Zusammenhang mit Corona registriert. Für ganz Brasilien sind es etwa 191 000 Tote und 7,5 Millionen Menschen, die angesteckt wurden.
Wir haben im vergangenen Jahr versucht, unsere Kinder aus der Ferne zu unterstützen, so gut es eben ging. Der Großteil unserer Eltern arbeitet als Tagelöhner, Putzhilfe, Lastenträger, Straßenverkäufer, Babysitter, Bügelhilfe, Wäscher oder Fabrikarbeiter. Die Arbeiterklasse wurde aus der Angst vor Ansteckung als Erstes von ihren Auftraggebern entlassen. Dabei sichern die Familien unmittelbar von diesem ohnehin kleinen Einkommen ihr Überleben. Rücklagen gibt es keine. Bald merkten wir, wie groß die Notwendigkeit der Lebensmittel-Basiskörbe für diese Familien und damit unsere Kinder war. Oft reichte nicht einmal eine Kiste im Monat aus.
Insgesamt haben wir zehnmal Lebensmittel-Kisten geschickt, jedes zweite Mal zusätzlich dazu eine Hygiene- und Putzkiste. Nach den ersten drei Monaten war es so weit, dass erste Familien eine Mahnung bekamen, die Wohnung oder das Häuschen verlassen zu müssen, würde die Miete nicht beglichen. Andere hatten mit Strom- und Wasserabstellung zu rechnen, falls fällige Rechnungen nicht bezahlt würden. Wir begannen mit der Notfallkasse, offene Rechnungen zu begleichen.
Um unseren Kindern das Warten zu erleichtern, schickten wir mit jeder Kiste eine kleine Geste, die sie an unseren gemeinsamen Jahreslauf und Alltag erinnerte. Ein selbst gebackenes Brot, Jabuticaba-Marmelade, als unser Jabuticaba-Baum im Zirkusgarten Früchte trug, Erdnussbutter, die viele so sehr lieben. Einmal durfte sich jeder Jugendliche ein Buch wünschen, das wir dann besorgten und in die nächste Kiste legten. Zu jedem besonderen Anlass bereiteten wir selbst gebastelte Geschenke für die Kinder vor.
Nach jeder Lebensmittelübergabe kamen wir mit Dank überfüllt zurück und nach jedem kleinen Geschenk an unsere Kinder hagelte es Fotos und Videos in der Handy-Hotline. Natürlich durften auch Kinder anrufen, die einmal die Stimme der Erzieherin hören wollten. In den Tagesstätten und Zirkushäusern fand sich ein neuer Rhythmus ein. Jedes Teammitglied kam zwei- bis dreimal in der Woche in eines der Häuser und jeder hatte seine Verantwortung: Das Haus putzen, im Garten Blätter harken, Blumen gießen, unsere Therapietiere versorgen, Einkäufe für Kranke und in besonderer Krisensituation befindliche Familien tätigen, verpacken und in die Häuser bringen, Lebensmittelkisten bestellen und verteilen.
Wir realisierten viele Projekte, die einfacher ohne Kinder im Haus oder der kleinen offenen Garage umzusetzen waren und so entstand unter anderem ein Spielplatz in Form eines Piratenschiffes im Sterntaler- und Zirkusgarten. Wir haben Fußböden und Wände saniert, alle Kinder- und Büroakten neu angelegt. Danach wurde das Gelände von Müll und Abwasser befreit, um nur ein paar der Aktionen zu nennen. Jeder Mitarbeiter erarbeitete mindestens ein kleines persönliches Projekt für die Arbeit mit den Kindern nach Wiederbeginn, manche haben an Kursen im Bereich Musik, Kunst, Waldorfpädagogik und tiergestützte Therapie teilgenommen.
Acht Familien betroffen vom Virus
Unseres Wissens waren bisher acht unserer Familien direkt von Corona betroffen, in vier Fällen kam es zu einem Aufenthalt im Krankenhaus. Nach der Behandlung wurden die Patienten oder ihre Angehörigen mit Frischgemüse und Obst vom Markt und Hygienematerial täglich versorgt. Für die Großmutter eines unserer Kinder kochte unsere Köchin zur Stärkung Hühnersuppe und presste Säfte aus frischem Obst. Alle erholten sich. Aus unserem Team wurden drei Familien mit dem Virus getroffen. Es reichte aber zum Glück Isolation und die notwendige Versorgung durch die Familie.
Unsere Zirkusartisten und die großen Sternentalerkinder haben in diesem Jahr so gut wie keinen Schulunterricht gehabt. Online-Unterricht wurde mehr schlecht als recht angeboten. Aber nur wenige unserer Schüler haben einen Computer oder eine zuverlässige Internetverbindung. Und die Google-Stunden, die die Schulen als allgemeine Lernprogramme ablaufen lassen, motivieren und helfen sicherlich keinem weiter.
Im September hat Katrin im Zirkus mit Nachhilfe- und Musikeinzelunterricht begonnen. Die Initiative kam von den Jugendlichen selbst, als sie fragten, ob sie nicht einmal in der Woche in kleinen Gruppen im Zirkusgarten trainieren dürften. Sie bräuchten ja nicht einmal einen Lehrer. Abgemagert und mit Ringen unter den Augen kamen sie einer nach dem anderen zurück. Zuhause waren sie allein, passten auf kleinere Geschwister auf oder erledigten den Haushalt der Eltern, die ja doch irgendwie Geld verdienen mussten. Weil sie nicht raus durften, blieben nur Handy und Fernseher.
Einmal in der Woche findet nun also Musikunterricht zu zweit oder zu dritt statt. Schon nach kurzer Zeit weiteten wir das Angebot aus und nahmen die älteren Schulkinder dazu: Sie bekommen Gitarrenunterricht von einem unserer Zirkusschüler. Von einer befreundeten Schule wurden wir zu einer Online-Aufführung eingeladen. Es wurde in diesem Jahr deutlich, wie sehr auch die gastgebenden Schulen unsere jährlichen Vorführungen, Workshops und Begegnungen vermissten. Weil man auch für einen Livestream üben muss, trafen wir uns über mehrere Wochen samstags draußen im Zirkusgarten und es entstanden kleine Choreografien und Filme.
Im November, kurz vor der Online-Aufführung, wurde unser Zirkus erschüttert: Ein ehemaliger Artist, unser großer geliebter Clown „Don Jorge Felix, el Fuerte“, der auf fast allen Fotos und Plakaten im Zirkushaus abgebildet ist, starb nach einem zwölftägigen Krankenhausaufenthalt nach akutem Nierenversagen mit Komplikationen an Herzstillstand. Man kann sagen, dass er zwar nicht am Coronavirus, doch aber an dessen Konsequenzen verstorben ist, denn er wurde innerhalb zwei Wochen mit Fieber und Beschwerden dreimal von Ärzten und Krankenhaus zur Isolation nach Hause geschickt - immer nur mit einer Verdachtsdiagnose. Die eigentlichen Ursachen seines Gesundheitszustandes wurden erst einmal gar nicht untersucht.
Er war eines unserer Gründungskinder, ein Junge, der gleich zu Anfang des Zirkus acht Jahre an den Aktivitäten teilgenommen hat und später auch Unterricht gab, ehe er sein Studium der Molekularbiologie mit einem selbst eroberten Stipendium an der Universität São Carlos antrat. Es fehlte nur noch die Abschlussarbeit für den Bachelor - das Labor war wegen Corona geschlossen. In einem Museum des Physikinstitutes arbeitete er währenddessen weiter und durfte Schulklassen sowie anderen Kindergruppen das Wissen über physikalische Phänomene vermitteln. Erschüttert waren alle über seinen Tod: Familie, Freunde, Studienkollegen und unser kleiner Zirkus. Mit unserem Lied, das sicher bis in den Himmel zu hören war, nahmen wir Abschied von ihm.
Nicht nur materielle Not
Dass das größte Leid der Kinder und Jugendlichen nicht die materielle Not ist, wussten wir, als wir sie im Frühjahr nur zwei Monate nach Beginn des Schuljahres nach Hause schickten. Jede der Familien hat ihr spezielles Kreuz zu tragen: Einmal ist der Vater inhaftiert und die Mutter schlägt sich mit Tagesjobs allein durch, ein anderes Mal ist es die alleinerziehende Mutter, die drogenabhängig ist und wir trotzdem das Kind in ihrer alleinigen Verantwortung wissen. Oder die Großmutter, alt und inzwischen selbst fürsorgebedürftig, lebt vom Müllsammeln und zieht die Enkelkinder verstorbener oder entmündigter Eltern groß. Jugendliche, deren Geschwister alle in die Drogenszene verwickelt sind.
Wir durften glücklicherweise in diesem schwierigen Jahr in anderer Form weiterarbeiten und unseren Kindern all die Liebe und Pflege, die sie im Zusammensein mit uns erleben, mit kleinen Gesten auf andere Weise zukommen lassen.
Bei der Bescherung ist nun Pedro an der Reihe. Seine Mutter (einst war sie als Jugendliche bei uns im Zirkus) nimmt wie alle unsere Eltern eine besondere Lebensmittelkiste mit nach Hause - für ein Fest mit Kleinigkeiten, die es in diesen Familien sonst nie gibt: Salami, Oliven oder Traubensaft. Für unsere Kinder bedeutet jede Lebensmittelkiste und jede kleine Geste mehr als Überleben. Ein Geschenk erhalten bedeutet, dass der sichere Ort, den ich habe, da ist. Er wartet da draußen, bis der Sturm vorbei ist. Und: Ich werde nicht vergessen. Die Welt wird mich in all ihrer Liebe und Schönheit wieder empfangen, wenn alles vorbei ist.
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