Im Interview

Romani Rose aus Oftersheim: Der „vergessene Holocaust“

Der Vorsitzende des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose aus Oftersheim, spricht über Ablehnung, Aufarbeitung und Toleranz.

Von 
Vincent Kern
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Romani Rose lebt seit über 40 Jahren in Oftersheim und ist seit 1982 Vorsitzender des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma. © Zentralrat Deutscher Sinti und Roma

Oftersheim. Antiziganismus, Antisemitismus, Rassismus – man würde meinen das seien Themen der Vergangenheit. Doch auch im Jahre 2022 werden Angehörige der Sinti und Roma und auch anderer gesellschaftlicher Minderheiten immer noch diskriminiert und ausgeschlossen. Der seit über 40 Jahren in Oftersheim ansässige Vorsitzende des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, wirft im Interview einen Blick auf die völkerrechtlichen Verbrechen, die an Sinti und Roma in Zeiten des Dritten Reichs begangen wurden, auf das, was Sinti und Roma heutzutage beschäftigt, und er erklärt, was er sich für den gesellschaftlichen Umgang mit der Minderheit in Zukunft wünscht.

Sind Sinti und Roma besonders?

Romani Rose: Die Sinti und Roma sind in erster Linie Bürger der Staaten, in denen sie leben. In Deutschland gehören sie zu den vier nationalen Minderheiten und Volksgruppen - neben den Lausitzer Sorben, der dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe – sowie der Sprechergruppe Niederdeutsch.

Treffen Sie auf Ablehnung in Ihrem Alltag?

Rose: Fast alle Angehörigen der Sinti und Roma haben in ihrem Leben bereits Ausgrenzung und Ablehnung erfahren. Die Leipziger Autoritarismus-Studie ist zu dem Ergebnis gekommen, dass 56 Prozent der Befragten Probleme mit Sinti und Roma in ihrer Nachbarschaft hätten und 49,2 Prozent wollen sie aus den Innenstädten verbannen. Antiziganismus, so halten die Forschenden fest, ist in den neuen Bundesländern verbreiteter als in den alten, wo der Sockel bereits sehr hoch ist. In den neuen Bundesländern leben nur sehr wenige Sinti oder Roma; ähnlich wie es dort einen Antisemitismus ohne Juden gibt, so gibt es dort einen Antiziganismus ohne Sinti oder Roma.

Wird den Sinti und Roma und den Verbrechen, die an ihnen begangen wurden, genug Aufmerksamkeit geschenkt?

Rose: Behörden, Polizei und Justiz haben die Angehörigen der Minderheit auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs weiterhin diskriminiert, stigmatisiert oder kriminalisiert. In Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit wurde der Völkermord an den Sinti und Roma lange verschwiegen oder verleugnet. Auch Ansprüche auf Entschädigung wurden lange nicht anerkannt. Deshalb wird der Völkermord an der Minderheit auch als der „vergessene Holocaust“ bezeichnet. Erst Bundeskanzler Helmut Schmidt hat am 17. März 1982 dieses Menschheitsverbrechen offiziell anerkannt – fünf Wochen nachdem sich der Zentralrat zum Dachverband der Minderheit zusammengeschlossen hat. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat vor wenigen Wochen für „dieses zweite Leid, das den Sinti und Roma in der Nachkriegszeit angetan wurde“ um Vergebung gebeten. Wir haben also sehr viel erreicht, doch es gibt noch immer Menschen, die den Holocaust an den Sinti und Roma leugnen.

Wo ordnet sich Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern in der Aufarbeitung von menschen- und völkerrechtlichen Verbrechen gegenüber Sinti und Roma ein?

Rose: Mit der Einsetzung von Dr. Mehmet Daimagüler als Bundesbeauftragter gegen Antiziganismus macht die Bundesregierung deutlich, dass der Antiziganismus auf der höchsten politischen Ebene als ein Problem gesehen wird, das unsere demokratische Wertegemeinschaft als Ganzes ernsthaft bedroht. Auch der Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus und die Einrichtung der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus zeigt, dass das Thema in Deutschland höchste Priorität hat.

Für wie wichtig befinden Sie Gedenkstätten?

Rose: Dass sich die Erinnerung an den Völkermord an den Sinti und Roma heute grundlegend geändert hat, ist vor allem auf die Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma und die Arbeit des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma zurückzuführen. Vertreter des Heidelberger Zentrums wurden außerdem in Fachgremien berufen, die die Gedenkstätten beraten und deren konzeptionelle und inhaltliche Arbeit mitgestalten. Als Ergebnis dieser engen Kooperation ist der Genozid an den Sinti und Roma inzwischen in vielen Ausstellungen der Mahn- und Gedenkstätten gut dokumentiert.

Was genau hat es mit dem Dokumentations- und Kulturzentrum deutscher Sinti und Roma in Heidelberg auf sich?

Rose: Im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, der 1997 gegründeten Facheinrichtung des Zentralrates, wurde in einer ständigen Ausstellung die Dimension des Völkermords an den Sinti und Roma erstmals für eine breite Öffentlichkeit sichtbar gemacht. Das Zentrum hat es sich zur Aufgabe gemacht, die über 600-jährige Geschichte der Sinti und Roma in Deutschland zu dokumentieren. Noch liegt der Schwerpunkt auf der Verfolgung der Minderheit im Nationalsozialismus, aber mit einer Neukonzeption der Dauerausstellung möchten wir in einem geplanten Neubau auch stärker über den Einfluss der Minderheit auf Kunst und Kultur informieren.

Was sind Ihre Aufgaben als Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma?

Rose: Der Zentralrat ist die politische Interessenvertretung der deutschen Sinti und Roma und bekämpft Antiziganismus auf den Ebenen von Verhalten, von Ideologie und insbesondere von Strukturen. Ziel des Zentralrates ist die gleichberechtigte Teilhabe von Sinti und Roma in Politik und Gesellschaft. Der Zentralrat adressiert Antiziganismus als gesamtgesellschaftliches Problem als Ursache für Diskriminierung und Ausgrenzung, von dem die nationale Minderheit ebenso wie auch zugewanderte Roma betroffen sind.

Haben Sie Sorge vor gesellschaftlichen Entwicklungen?

Rose: Es gibt in Deutschland und Europa einen neuen, zunehmend gewaltbereiten Rassismus gegen Sinti und Roma. Dieser wird nicht nur von rechtsextremen Parteien und Gruppierungen getragen, sondern er findet immer mehr Rückhalt in der Mitte unserer Gesellschaft. Für besonders gefährlich erachtet der Zentralrat die aktuelle Berichterstattung einzelner Medien im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise und dem Krieg in der Ukraine, bei der das angebliche Fehlverhalten einzelner Geflüchteter mit ihrer Abstammung in Verbindung gebracht und damit Sinti und Roma in ihrer Gesamtheit stigmatisiert und an den Pranger gestellt werden.

Was würden Sie sich von der Gesellschaft im Umgang mit Sinti und Roma in Zukunft wünschen?

Rose: Sinti und Roma möchten als gleichberechtigte Bürger der Staaten anerkannt werden, in denen sie leben. Sie möchten nicht nur die gleichen Rechte, sondern auch die gleichen Pflichten übernehmen. Sinti und Roma möchten gute Nachbarn sein und als Minderheit nicht ausgegrenzt werden.

Zur Person: Romani Rose

Romani Rose ist am 20. Au-gust 1946 in Heidelberg geboren. Er ist verheiratet und hat sechs Kinder.

Bei der Gründung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma im Jahre 1982 wurde er zum Vorsitzenden gewählt und seither alle vier Jahre auf den Mitgliederversammlungen in seinem Amt bestätigt. Ab 1991 übernahm Rose die Geschäftsführung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg.

Er ist bei den Regierungen von Bund und Ländern und auch im Ausland seit vielen Jahren bekannt für seine Entschlossenheit und für die konsequente und unnachgiebige Arbeit. vk

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