Oftersheim/São Paulo. Die Oftersheimerin Katrin Bugert (kleines Bild) lebt und arbeitet in São Paulo. Zusammen mit zwei Kolleginnen betreibt die Waldorfpädagogin den "Circo Ponte das Estrelas" - "Zirkus Sternenbrücke". Das Projekt soll Kindern aus der sozialen Unterschicht eine Zukunftsperspektive bieten. Die jungen Leute lernen nicht nur Disziplin und Fleiß, sondern auch zusammenzuarbeiten. Im Gespräch mit unserer Zeitung berichtet Bugert von ihrem Projekt, mit dem sie aktuell durch soziale Einrichtungen in São Paulo und dem Rest Brasiliens tourt.
Frau Bugert, Sie leben seit zwölf Jahren in Brasilien. Wie ist das Wetter bei Ihnen?
Katrin Bugert: Zur Zeit ist es sehr kalt hier in São Paulo. In der Nacht sinken die Temperaturen bis auf sechs Grad. Morgens ist es richtig ungemütlich, denn wir haben hier in den Häusern keine Heizung und kein fließend warm Wasser (außer in den Duschen): Schal und Mütze legen wir deshalb auch drinnen nicht ab. Allerdings kann es am Tag auch wieder auf bis zu 28 Grad aufheizen - ein Temperaturunterschied, der vielen gesundheitlich zu schaffen macht.
Was eignet gerade den Zirkus so gut dafür, Kindern eine Zukunftsperspektive zu geben?
Bugert: Jeder findet im Zirkus seinen Platz. Viele Kinder haben starken Bewegungsdrang und Lernschwierigkeiten. Bei uns können sie sich messen und entwickeln. Sie lernen Schritt für Schritt, zu sich selbst zu stehen. Ein Kind, das vorher noch nicht einmal rechts und links unterscheiden konnte und später mit drei Bällen auf dem Rola-Bola jongliert, überwindet Ängste. Der Zirkus fördert auch das soziale Miteinander, lehrt, Eigenes und Fremdes anzuerkennen, sich in ein Ganzes einzufügen. Daneben versuchen wir, Rhythmus in das Leben der Artisten zu bringen. Die Verabredungen und Regeln, die im Zirkus gelten, sind für viele eine Herausforderung: Die tägliche Teilnahme, Hausaufgaben machen, regelmäßig in die Schule gehen sind Dinge, mit denen wir die Kinder für andere Pflichten stärken wollen.
Waldorfpädagogen findet man ja eher selten in der Manege. Wie haben Sie selbst zu dem Projekt gefunden?
Bugert: Ich habe nach meiner Schulzeit ein musikalisches Orientierungsjahr in Hamburg gemacht und dabei Regina, meine jetzige Kollegin, kennengelernt. Sie ist 1998 als Helferin nach São Paulo gegangen und hat dort in einem Waisenhaus gearbeitet. Sie ist dort auf Celia, die dritte Mitstreiterin im Zirkus, gestoßen. Regina und Celia haben später eine Tagesstätte gegründet, die heute das Mutterprojekt für den Zirkus ist. Ich habe nach meinem Studium als Lehrerin für schulmüde Jugendliche in Norddeutschland - auch ein Zirkusprojekt - gearbeitet. Auf einer Tournee 2014 kam Regina, die gerade mit den Kindern zu Besuch war, zu einer Vorstellung. Sie fragte mich, ob ich mit ihr ein ähnliches Projekt in São Paulo aufbauen wolle. Ich sagte für neun Monate zu - und bin noch immer dabei.
Wenn Sie an die Anfänge des "Zirkus Sternenbrücke" zurückdenken: Was hat sich am meisten verändert?
Bugert: Wir haben sehr einfach angefangen, füllten Luftballons mit Sand als Jonglierbälle, hatten ein paar Keulen, Jonglierteller und Tücher. Heute haben wir mehr Requisiten und seit dem vergangenen Jahr sogar eigene Räumlichkeiten. Wo wir anfangs bitten mussten, an Privatschulen aufzuführen, so müssen wir heute absagen, weil alle Aufführungsdaten schon lange vorher vergeben sind. Die Arbeit hat sich mehr geöffnet, da der Bedarf in unserer Region sehr groß ist.
Was ist geblieben?
Bugert: Geblieben ist unsere Motivation, die Begeisterung für die Arbeit mit den Jugendlichen, und der Glaube an Veränderung. Unser Wunsch ist es, den Jugendlichen Halt zu geben und Mut zu machen. Wir schreiben unsere eigenen Geschichten und bauen unsere Requisiten selbst.
Im Juli gehen Sie mit Ihren Artisten wieder auf Tour. Was erwartet das Publikum?
Bugert: Unser diesjähriges Programm heißt "MarioNette" und erzählt von Mario, der in dem Glauben gefangen ist, durch seinen Erfolg Anerkennung zu erringen. Nete versteht den Freund nicht. Sollte Freundschaft nicht ein Geschenk sein? Das Mädchen wird ihrem Freund helfen müssen, sich von den Marionettenfäden des Konsumgedankens zu befreien. Die Vorstellung dauert 90 Minuten und beinhaltet neben Theaterszenen Zirkusnummern wie Jonglieren, Einradfahren, Seiltanz, Rola-Bola und Clowns. Und sogar zwei Tiernummern: Giraffen und eine Spinne.
Und wie geht es danach mit dem Projekt weiter?
Bugert: Wir kehren im August in unseren Alltag zurück, das heißt die Kinder gehen in die Schule und kommen jeden Tag in den Zirkus. Wir essen gemeinsam und helfen bei den Hausaufgaben. Sobald das Programm steht, bleibt mehr Zeit für Anderes, so werden wir etwa ab August zwei Mal in der Woche Englischunterricht anbieten. Im Oktober dann gehen wir mit "MarioNette" noch mal für drei Wochen auf Tournee. Die einzige Möglichkeit für die Kinder, aus der Großstadt - oder auch aus ihrem Viertel - einmal rauszukommen und neue Dinge zu sehen. Vielleicht sogar irgendwann noch einmal auf Tour in Deutschland.
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