Große Feier

Evangelischer Kirchenchor Reilingen: Musik im Namen Gottes

Das Reilinger Gruppe feiert ihr 150-jähriges Bestehen. Ein Blick auf die bewegte Geschichte des Ensembles.

Von 
Matthias H. Werner
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Der aktuelle evangelische Kirchenchor. © Frank Powik

Reilingen. 1875 ist ein ereignisreiches Jahr: Paris eröffnet sein legendäres Opernhaus, gleich nebenan einigt man sich auf die sogenannte „Meterkonvention“. In Deutschland stolpert das gerade gegründete Kaiserreich von einer Krise zur nächsten, während man erstmals die Zivilehe vorschreibt und beim „Gothaer Kongress“ die später „SPD“ genannte Partei gründet. Außerdem werden der VW-Käfer-Erfinder Ferdinand Porsche, der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann und der Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer geboren. Der französische Komponist Georges Bizet, dessen Oper „Carmen“ im selben Jahr uraufgeführt wurde, der dänische Dichter Hans Christian Andersen und der schwäbische Biedermeier-Schriftsteller Eduard Mörike sterben – ebenso wie die Reilinger Bürgerin Anna Maria Zahn. Nach alter reformatorischer Sitte wird „zur Leiche“ gesungen. Diesmal verstärkt der Hauptlehrer und Organist die auf dem Wersauer Hof singenden Mädchen und Buben seiner Chöre mit Männerstimmen – und hat damit den evangelischen Kirchenchor aus der Taufe gehoben, der bis heute die älteste Vereinigung der damaligen Tabakgemeinde ist, die rund 15 Jahre später zur heutigen Spargelgemeinde avancierte.

Feierlichkeiten

Sonntag, 27. Juli, 9.45 Uhr: Festgottesdienst in der katholischen Kirche St. Wendelin

Sonntag, 30. November, 17 Uhr: Adventskonzert mit den evangelischen Kirchenchören Ketsch und Brühl in der Friedrich-von-Schiller-Schule.

Die Reilinger Passionsspiele in voller Länge gibt es hier.

Seither lag das musikalische Wohl und Wehe des Chors mit seiner wechselvollen, durch zwei Weltkriege und zahlreiche Musik-Highlights geprägten Geschichte in der Hand herausragender Dirigenten, zum Beispiel der Rektor und spätere Reilinger Ehrenbürger Franz Riegler, der fast 50 Jahre lang auch den Männergesangsverein dirigierte. In diese Liste gehört ebenso der bei seinem Amtsantritt erst 19-jährige Musiker Klaus Eisenmann, der später Generalmusikdirektor am Stadttheater Lübeck, Dirigent des Mannheimer Stamitz-Orchesters und Gastdirigent in Danzig, Lodz, Stettin und Breslau wurde. Unter Ulrich Greiners Stabführung sangen alle damaligen Reilinger Chöre zum Finale der 700-Jahr-Feier ihrer Gemeinde. Hans-Jürgen Reinhardt, der mit einem Gospelkonzert und der Gründung eines Kinder- und Jugendchors frischen Wind in den damals schon über 100 Jahre alten Chor brachte, sorgte zum 125. Geburtstag und Jahrtausendwechsel mit den „Reilinger Passionsspielen“ überregional für Aufmerksamkeit. Seit 2007 prägt nun Michael Leideritz die Musikgeschichte der Gemeinde mit.

Vor der Auflösung bewahrt, zu Erfolgen geführt

Damit eine Vereinigung 150 Jahre existieren kann, bedarf es auch weltlicher Kräfte: Der unermüdliche Einsatz unzähliger Mitglieder und Helfer formte aus Ideen großartige Konzerte, Mehrtagesfahrten und legendäre Winterfeiern mit Bauerntheater. Außerdem ermöglichte er die Teilnahmen an Dorfumzügen, Straßen- und sonstigen Festen sowie eine vielgefeierte „Aschermittwoch-Playbackshow“ wie 1999. So verdankt der Kirchenchor sein diesjähriges Jubiläum auch Unterstützern und hochengagierten Vorständen. Michael Villhauer verhinderte während der des Darbens im Ersten Weltkrieg (1914 bis 1918) die Auflösung. Ernst Brandenburger wiederum organisierte den Chor von 1958 bis 1986 in einer Phase größter musikalischer Herausforderungen. Die Liste der wichtigsten Protagonisten vervollständigt der heutige Kirchenchor-Chef Frank Powik, der diese Aufgabe seit fast 30 Jahren innehat.

Der Chor beim 75. jährigen Bestehen im Jahr 1950. © Chor

Im Zusammenspiel aus zielorientierter Vorstandschaft, fleißigen Mitgliedern und Unterstützern sowie kreativen, langmütigen musikalischen Leitern hat der Chor in 150 Jahren nicht nur das Gemeinde- und gemeindliche Leben klanglich bereichert, sondern auch herausragende musikalische Leckerbissen servieren können. Zum 50. Geburtstag schenkte das Ensemble den Reilingern die Aufführung des Oratoriums „Jüngling zu Nain“ des Stuttgarter Theologen Carl Grüneisen (Libretto) und des Konstanzer Komponisten Peter Joseph von Lindpaintner unter der Leitung des Landesmusikdirektors Dr. Hermann Meinrad Poppen.

Ausgezeichnete Truppe erregt überregional Aufmerksamkeit

Rund um den 100. Geburtstag hat der Chor in einer sehr intensiven Zeit gar gleich ein Dreigestirn der Musik über die Bühnen gebracht: 1975 führte man Joseph Haydns Missa solemnis in B-Dur, die sogenannte „Schöpfungsmesse“ auf, im Jahr darauf bekam er bei dem – für Kirchenchöre ungewöhnlichen – Volksliederkonzert die seit den 1920ern als staatliche Auszeichnung vergebene und 1956 vom damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss wiedereingeführte Zelter-Plakette verliehen. Weitere große und vor allem gefeierte Konzerte waren 1985 Georg Friedrich Händels Oratorium „Messias“ und 1997 ein viel beachtetes Volksliederkonzert.

Für alle Zeiten unabweisbar in die Reilinger Ortsgeschichte eingebrannt hat sich der Kirchenchor mit den zum 125. Vereinsjubiläum inszenierten Passionsspielen. Dirigent Hans-Jürgen Reinhardt hat auf Basis der von den burgenländischen Passionsspielen St. Margarethen, wo seit 1926 im Römischen Steinbruch alle fünf Jahre vor zuletzt fast 20.000 Zuschauern gespielt wird, überlassenen Texte die zur Legende gewordenen „Reilinger Passionsspiele“ konzipiert. Weit mehr als 300 Aktive ließen am Palmsonntag des Jahres 2000 mehrere tausend Zuschauer in einer kolossalen Aufführung am Leidensweg und der Kreuzigung Christi förmlich teilhaben und setzten dem Kirchenchor, Reinhardt und Chef-Koordinator Powik ein kulturelles Denkmal.

Ein großer Erfolg waren die im Jahr 2000 vom Chor aufgeführten "Reilinger Passionsspiele". © chor

„Die Bewahrung der Tradition, das Wort Gottes im Liede zu verkünden, möge für alle die Verpflichtung oder hohe Auszeichnung sein, um auch in Zukunft die anstehenden Aufgaben zu bewältigen“, verkündete der Chor schon vor 15 Jahren seine Ziele. Das ist in Zeiten, in denen allenthalben eine zunehmende Erosion in der Kulturlandschaft zu bemerken ist, kein leichtes Unterfangen und auch der Kirchenchor hat mit den Herausforderungen einer immer egozentrischer werdenden Gesellschaft zu kämpfen. So bleibt als Geburtstagswunsch, was sich der Chor seinerzeit als Hoffnung auftrug: Dran und aktiv zu bleiben, „sodass der Kirchenchor auch noch in einigen Jahrzehnten aktiv das Wort Gottes musikalisch verbreitet“.

Weitere Bilder aus den vergangenen Jahrzehnten

Freier Autor Seit Mitte der 1990er Jahre als freier Journalist vorrangig für die Region Hockenheim/Schwetzingen tätig - Fachbereich: Kultur.

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