Reilingen. Seit der Reformation sei es im Ort Sitte, bei verstorbenen Gemeindemitgliedern „zur Leiche zu singen“, heißt es in der Chronik des evangelischen Kirchenchores. Hauptlehrer Eyermann, der in der Gemeinde auch als Organist tätig, also musisch bewandert war, leitete den Schülerchor. Dessen helle Knaben- und Mädchenstimmen fehlte nach seiner Meinung das „Fundament“, weshalb er den Schulchor um Männerstimmen erweiterte, um ihm mit dem Bass mehr Bodenhaftung zu verleihen. Bei der Beerdigung von Anna Maria Zahn im Jahr 1875 hatte der neu formierte Chor seinen ersten Auftritt – es war zugleich die Geburtsstunde des evangelischen Kirchenchores.
Gegründet 1875, diese Zahl muss man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen. Deutschland war noch Kaiserreich – Wilhelm I. war vier Jahre zuvor in Versailles gekrönt worden – und die Straßen gehörten noch den Pferde- und landwirtschaftlichen Fuhrwerken. Bis die Gemeinde vollständig mit elektrischem Strom versorgt war, sollte noch ein Vierteljahrhundert ins Land gehen und die allgemeine Wasserversorgung erreichte Reilingen erst in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
„Wir sind die älteste Gemeinschaft von Reilingen“, verkündet Frank Powik, der Vorsitzende des evangelischen Kirchenchors im Gespräch mit unserer Zeitung nicht ohne Stolz. Und, fügte er hinzu, im hiesigen evangelischen Kirchenbezirk zählt der Chor zu den ältesten.
Powik ist in der langen Geschichte des Chores erste der elfte Vorsitzende, was für Kontinuität und ein existierendes Gemeinschaftsgefühl innerhalb des Chores spricht. Auch Michael Leideritz, der den Chor seit einem Jahr leitet, spricht für diese Beständigkeit: Hat er den Taktstock beim Kirchenchor schon von 2005 bis 2012 geschwungen. Die folgenden sieben Jahre übernahm Christiane Kreis, die nach Bonn zog, und so kehrte der Berliner Leideritz zum Chor zurück. Nicht vergessen werden soll hier Hans-Jürgen Reinhardt, der den Chor 1987 übernahm und dessen im Jahr 2000 aufgeführtes Passionsspiel mit gut 5000 Besuchern noch heute vielen Reilingern in Erinnerung ist.
Frauen scheiden nach Heirat aus
Zurück zur Chronik des Vereins. Wie dieser zu entnehmen ist, steht der Chor während des Ersten Weltkriegs kurz vor der Auflösung. Nicht nur wegen der vielen Männer, die im Krieg sind, sondern wegen der Frauen. Diese schieden, so wollte es damals ein ungeschriebenes Gesetzt, nach ihrer Heirat aus dem Chor aus. Aus heutiger Sicht eher ein Kuriosum.
Nach dem Krieg kehrte der Chor schnell zu alter Blüte zurück, angeleitet unter anderem von Hauptlehrer Franz Riegler, dessen Name das alte Schulhaus in die Gegenwart geführt hat. 1935, das 60-jährige Bestehen wird gefeiert, verkündet die Chronik nicht nur vom guten Ruf, den der Chor im Kirchenbezirk genießt, sondern erwähnt auch, dass er mittlerweile die „stattliche Anzahl von 60 aktiven Sängern“ vorweisen kann.
Der Zuspruch zu den Vereinen war damals noch ungebrochen, kaum eine andere Freizeitbeschäftigung lenkte ab. Zwar war es wohl nicht mehr so wie in den Anfangsjahren des Chores im 19. Jahrhundert, als man sich um eine Mitgliedschaft im Chor bewerben musste und es als hohe Auszeichnung galt, wenn man vom „Rat der ältesten Sänger“ für würdig befunden wurde, ihm anzugehören.
Auch der Zweite Weltkrieg hinterlässt beim Chor große Einschnitte, doch erholt er sich schnell und so kann 1959 das 75-jährige Bestehen mit 70 Sängern gefeiert werden. Der 100. Geburtstag wurde groß zelebriert, in der Mannherz-Halle wurde mit dem Chor, namhaften Solisten und dem badischen Kantatenorchester aus Karlsruhe die „Schöpfung“ von Haydn aufgeführt.
Ein großartiger Erfolg, der erst 25 Jahre später getoppt werden konnte, als die „Reilinger Passionsspiele“ aufgeführt wurden, die Dirigent Hans-Jürgen Reinhardt anhand der Texte, die ihm von den Passionsspielen aus St. Margarethen-Burgenland in Österreich überlassen worden waren, schrieb. Auch zum 145. Geburtstag laufen beim Chor die Vorbereitungen schon, im September soll die „Deutsche Messe“ aufgeführt werden. Doch vor dem Hintergrund der aktuellen Situation Corona-Pandemie stehen hinter Terminen im Herbst noch große Fragezeichen. Der für Mai geplante Fest- und Dankgottesdienst wurde schon abgesagt – die Sicherheit geht vor. Der Chor wird den Gottesdienst mit Sicherheit nachholen, wollte er doch beim ihn langjährigen Mitgliedern Danke sagen. Und die Zahl der Mitglieder kann sich durchaus sehen lassen. 33 aktive und 350 passive Mitglieder gehören dem Chor an, darunter fast 30 Ehrenmitglieder.
Stimmlich gut aufgestellt
Man sei noch immer sehr gut aufgestellt, freute sich Dirigent Michael Leideritz beim Pressegespräch. Sowohl Tenor als auch Bass verfügten über vier Stimmen, was in der heutigen Zeit schon eher die Ausnahme sei. Bei den Frauensingstimmen sei man noch besser aufgestellt. Natürlich, es handelt sich um einen Kirchenchor, wird das geistliche Jahr musikalisch begleitet, gehören die liturgischen Gesänge zum Standardrepertoire des Chores. Doch auch Volkslieder werden gesungen, „gerade unlängst beim Seniorennachmittag“, erinnert sich Vorsitzender Powik, der viel Wert darauf legt, dass die Geselligkeit beim Chor nicht zu kurz kommt.
Ausflüge, Mehrtagesfahrten, Geburtstagsfeiern oder Feste – eine Gelegenheit zum Feiern findet sich immer. Beispielsweise bei den legendären Zwiebelkuchen-Essen mit neuem Wein im Lutherhaus, erinnert sich Vizedirigent Werner Hoffmann. Oder er erinnert an den Weihnachtsmarkt, an dem sich der Chor schon wegen der Vereinskasse beteiligt, und er sich so in die Dorfgemeinschaft einbringt.
In diesem Jahr, dem Jubiläumsjahr, führt die Mehrtagesfahrt übrigens nach Berlin, der Heimat des Dirigenten. Und, betont Powik, „die Pfarrerin fährt mit“. Nicht nur für ihn ein Novum. Womit er auch andeutet, dass die Zusammenarbeit zwischen der Pfarrei und dem Kirchenchor, der viel Wert auf seine Selbstständigkeit legt, in der Vergangenheit nicht immer einfach war. Doch mit Pfarrerin Eva Leonhardt klappe die Zusammenarbeit reibungslos.
Diese gibt das Lob prompt zurück, immerhin ist sie stolz, gleich zwei Chöre, den Kirchenchor und den Gospelchor, dazu noch den Posaunenchor und die Flötengruppe, zu ihrer Gemeinde zählen zu dürfen. „Wir sind gesegnet mit Musik“, sieht sie in der breiten musikalischen Aufstellung der Kirchengemeinde schon eine Besonderheit. Und eine Freude, wenn sie beispielsweise in der Adventszeit im Gottesdienst jeden Sonntag von einer anderen Formation begleitet wird – „das ist schon schön“.
In diesem Jahr geht sie, wie sie noch hinzufügt, aus alter Verbundenheit mit auf die Fahrt nach Berlin, immerhin hat sie dort lange gelebt und es wohnen noch vieler ihrer Studienkollegen in der Hauptstadt.
Abwechslungsreiche Proben
Ja, um die Zukunft des Chores muss einem nicht bange sein, zumal sich Dirigent Leideritz bemüht, die Proben so abwechslungsreich zu gestalten wie möglich. Canon, Gospel oder a capella – die Stile und das musikalische Programm werden bunt gemischt – „da ist für jeden etwas dabei“. Und immer wieder kämen neue Sängerinnen und Sänger hinzu, freut sich der Chorleiter, der die gesetzteren Jahrgänge bevorzugt und deshalb um die ausbleibende Jugend nicht gram ist.
Wer Lust hat, mitzusingen, ist jederzeit eingeladen. Notenkenntnisse sind keine Voraussetzung, beruhigt Leideritz, viel wichtiger sei die Freude am Gesang.
Info: Mehr Bilder gibt es unter www.schwetzinger-zeitung.de
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