Kriminalität

Amokfahrt in Mannheim: Der Bericht einer Überlebenden

Zwei Menschen starben, 14 wurden bei der Amokfahrt auf den Mannheimer Planken verletzt – darunter Christine Miah. Die 73-Jährige hat dieser Redaktion ihre Geschichte erzählt.

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Agnes Polewka
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Christine Miah hat die mutmaßliche Amokfahrt schwer verletzt überlebt. © Agnes Polewka

Mannheim. Am Rosenmontag schiebt Christine Miah ihren Rollator durch die Mannheimer Innenstadt. Hinter ihr liegt ein Termin beim Onkologen, ihr Portkatheter musste gespült werden. Er gehört zu den vielen Spuren an ihrem Körper, die der Gebärmutterhalskrebs hinterlassen hat. Aber sie gilt seit über viereinhalb Jahren als krebsfrei. Sie fühlt sich gut, an diesem Tag. An diesem Rosenmontag.

Die 73-Jährige lenkt ihren Rollator über den Paradeplatz und stoppt dann. Auf den Planken steht eine Bahn, die einfach nicht losfährt. Miah und andere Passanten können die Straße nicht überqueren. Die Seniorin wartet. Und wartet. Sie unterhält sich kurz mit einer Frau, die sich umdreht und einen anderen Weg einschlägt.

Als sich die Straßenbahn in Bewegung setzt, schiebt Miah ihren Rollator über die Straße. Viele andere laufen neben ihr, vor ihr und hinter ihr. Es ist ein sonniger Frühlingstag, ein Tag wie zum Flanieren gemacht. Dann hört sie einen Schlag, einen Knall. Menschen, die schreien. Und danach bricht das Chaos aus.

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Drei Monate später sitzt Christine Miah in ihrer Mannheimer Zweizimmerwohnung in einem Rollstuhl. Sie versinkt förmlich darin. Im Krankenhaus hat sie weiter an Gewicht verloren, Miah wiegt nur noch 49 Kilogramm. In ihrem Wohnzimmer erzählt sie von dem Tag, an dem sie zum „Anschlagsopfer“ wurde, wie sie selbst sagt.

Christine Miah gehört zu den Überlebenden der Amokfahrt vom Rosenmontag. Ein Mann war an diesem Tag mit einem Kleinwagen durch die Mannheimer Fußgängerzone gerast. Dabei verletzte er zwei Menschen tödlich – eine 83 Jahre alte Frau aus Mannheim und einen 54-jährigen Mann aus Buchen. 14 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt.

„Schauen Sie nicht hin, da sind noch viel mehr Menschen“

Als Christine Miah den Knall hört, denkt sie zunächst an einen Unfall. Vielleicht ist die Straßenbahn mit einem Auto zusammengestoßen. Doch dann sieht sie einen Wagen auf sich zurasen, versucht sich zu ducken. Danach sieht sie nur noch die Scheinwerfer des Autos. „Dann hat er mich überfahren.“

Miah liegt auf der Straße, eine Passantin kniet sich neben sie, hält ihre Hand. Miah sagt ihr, dass zu Hause doch die Tiere warten, ihre Katze und die beiden Hasen. Die Frau redet beruhigend auf sie ein. Dann wandert Miahs Blick zur Seite, da liegt ein Kind. Die Passantin schirmt sie ab, „schauen sie nicht hin, da sind noch viel mehr Menschen“, sagt sie. Sanitäter versorgen zunächst den kleinen Jungen, wenige Meter entfernt. Einer der Ersthelfer fragt Miah, „ob sie noch klar sei“ und kurz warten könne. Sie nickt. Ihr Kopf ist unverletzt geblieben. Eingewickelt in eine Wärmedecke beobachtet sie, was da um sie herum geschieht. Dann kommen die Schmerzen.

Christine Miah ahnt, dass sie schwer verletzt ist. Wie schwer, das erfährt sie erst später in einer Heidelberger Klinik. In ihrer Wohnung schiebt sie sich tippelnd in ihrem Rollstuhl nach vorne, greift nach Papieren, die sich hinter ihrem Krankenbett stapeln und ihre Verletzungen dokumentieren. Ein Oberschenkel, eine Rippe und das Fersenbein waren gebrochen, außerdem war da noch eine schwere Knieverletzung. Es vergingen Monate, ehe sie das Bein wieder voll belasten durfte, und dann fing sie sich noch einen Krankenhauskeim ein, sagt sie.

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Bis heute kämpft Miah mit den Folgen der Tat. Eine Physiotherapeutin kommt regelmäßig zu ihr nach Hause. Miah musste neu laufen lernen, vor allem das Treppensteigen bereitet ihr Schmerzen. „Aber ich möchte nicht für immer im Rollstuhl sitzen bleiben, ich bin es gewohnt, mit meinem Rollator zu laufen“, sagt sie. Neben ihrem Krankenbett steht ein Leih-Rollator, den sie möglichst bald wieder nutzen will. Ihr eigener wurde am Rosenmontag zertrümmert.

Überlebende der Mannheimer Amokfahrt: Christine Miah sucht ihre Hasen

„Ich bin hier vorne vor dem Haus schon einige Schritte gegangen“, sagt sie. Viel weiter nicht, für längere Strecken fehlt ihr die Kraft. Ohnehin möchte sich Miah nicht allzu weit von ihrem Haus entfernen. Irgendwann einmal, will sie vielleicht wieder einkaufen gehen. „Aber im Moment gehe ich nicht mehr raus.“

Mitarbeiter eines Pflegediensts unterstützen Miah beim Waschen, Einkaufen und Putzen, helfen ihr beim Duschen und Anziehen. Doch sie vermisst ihr altes, selbstbestimmtes Leben. Und ihre Hasen. Ihre Katze war zunächst bei einem Freiwilligen in der Region untergebracht, inzwischen lebt das Tier wieder bei Miah. Doch von ihren Hasen fehlt jede Spur, sagt sie. Miah hat Bilder der Tiere an die Wände des Wohnzimmers geklebt. Ende April bekam sie zum letzten Mal Fotos von ihnen. Danach tauchte die Frau, die sich um die Tiere kümmern sollte, ab, sagt Miah. Über verschiedene Kanäle habe sie versucht, an die Daten der Frau zu kommen. Doch alle ihre Versuche liefen ins Leere, sagt sie. Die Hasen zurückzubekommen, würde sie ablenken. Von ihren Gedanken an die Amokfahrt, die immer wieder kommen.

Im Netz hat Miah ein Foto des Menschen gesehen, der ihrem Leben von einer Sekunde auf die nächste eine Wendung gab. „Eigentlich wollte ich es mir gar nicht anschauen“, sagt sie und spricht immer schneller. Ihre Stimme überschlägt sich fast. „Das war doch kein Unfall, oder? Das war doch Vorsatz?“, fragt sie. Miah will Antworten, sie braucht sie.

Mutmaßlicher Täter vermindert schuldfähig?

Am Montag hat die Mannheimer Staatsanwaltschaft öffentlich gemacht, dass sie Anklage gegen den mutmaßlichen Täter erhebt. Sie wirft dem Mann Mord und versuchten Mord vor. Als der 40-Jährige am 3. März 2025 um kurz nach 12 Uhr mittags die rote Ampel am Friedrichsring überfuhr und in die Fußgängerzone einbog, tat er dies „mit dem Ziel, diese mit hoher Geschwindigkeit zu durchfahren und eine noch unbestimmte Anzahl an Fußgängern zu töten“, so die Staatsanwaltschaft.

Hinweise auf ein politisches Motiv fanden die Ermittlerinnen und Ermittler laut Staatsanwaltschaft nicht. Es sei davon auszugehen, dass der Mann seit vielen Jahren an einer psychischen Erkrankung leide. Deshalb könnte es sein, dass der Täter zum Zeitpunkt der Taten vermindert schuldfähig war, heißt es in der Mitteilung zur Anklageerhebung.

Nach einem Verbrechen prüft die Staatsanwaltschaft immer, ob ein mutmaßlicher Täter schuldunfähig ist oder nicht. Denn wer schuldig sein soll, muss in der Lage sein, einzusehen, dass er oder sie etwas Unrechtes tut. Und er muss imstande sein, gemäß dieser Überzeugungen zu handeln. Wer dies nicht kann, muss sich in einem Unterbringungsverfahren vor Gericht verantworten. Anders als in Strafverfahren geht es in diesen Prozessen nicht um den staatlichen Sühneanspruch, sondern um den Schutz der Gesellschaft vor einem mutmaßlichen Täter.

Ist die Schuldfähigkeit vermindert – wie dies hier der Fall sein könnte –, so hat sich der Täter strafbar gemacht, die Kammer kann die Strafe jedoch mildern.

Der mutmaßliche Täter befindet sich weiterhin in Untersuchungshaft. Er schweigt bislang zu den Vorwürfen.

Redaktion

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