Schwetzingen / Mannheim. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten die Synagogen. Sie brannten in Baden, Württemberg und Hohenzollern genauso wie im gesamten Deutschen Reich. Der 9. November ist der Tag, an dem organisierte Schlägertrupps jüdische Geschäfte, Gotteshäuser und andere Einrichtungen in Brand setzten. Es ist der Tag, an dem Tausende Jüdinnen und Juden misshandelt, verhaftet oder getötet wurden – auch in Schwetzingen, in der Kurpfalz.
Diese Nacht war das offizielle Signal zum größten Völkermord in der Geschichte. Und das darf nie wieder passieren! Daher werden wir als freie Presse nicht müde, immer wieder auf dieses furchtbare Kapitel der deutschen Geschichte hinzuweisen und sie mit persönlichen Schicksalen – wie das folgende der Familie Seidenberger – wachzuhalten, eben damit das Niewieder sich fester in den Köpfen manifestiert.
Das Unternehmen des Hopfen- und Tabakhändlers Maier Seidenberger am Ort bestand seit 1825. Inmitten Schwetzingens gehörten ihm „auch zwei Häuser am Schlossplatz (Nummer 5 und 6)“. So hatten die Familien Seidenberger – Ehrhart – Neumaier Schwetzinger Wurzeln.
Frank-Uwe Betz hat sich detailliert mit dem Buch des Enkels Peter Neumaier beschäftigt, der das Schicksal seiner Großeltern anhand von Aufzeichnungen veröffentlicht hat.
Von den Nazis verfolgt – die Geschichte der Familie Seidenberger aus Schwetzingen
Maier Seidenberger, geboren 1802 in Schwetzingen, und Babette Levi aus Bensheim hatten die jüdische Familie hier begründet. Später entstanden Geschäfte in Mannheim und Nürnberg, das Ende des 19. Jahrhunderts Welthandelszentrum des Hopfens war. Sohn Isaak Seidenberger, geboren 1841 in Schwetzingen, heiratete Louise Stern aus Mannheim, 1875 zogen sie nach Nürnberg, es wurde eine Firmenniederlassung in Amerika begründet. Einer ihrer Söhne war Ernst Seidenberger, genannt „Opa Ernst“, mit dessen Biografie und Verfolgungsgeschichte sich sein Enkel Peter Neumaier befasst und worüber er ein Buch veröffentlicht hat, auf dessen Grundlage dieser Artikel verfasst wurde.
Hintergrund
- Zum Buch: „Wehe dem, der allein ist! – Mein Großvater Ernst Seidenberger, Münchner Rechtsanwalt in der NS-Zeit“, Peter Neumaier, Hentrich & Hentrich Verlag, 2018. 346 Seiten, Klappenbroschüre, 51 Abbildungen (ISBN: 978-3-95565-277-7), mit einem Vorwort von Micha Brumlik, 24,90 Euro.
- Zum Verfasser: Peter Neumaier wurde 1949 in Frankfurt am Main geboren. Er studierte Volkswirtschaft und Politik, er war bis 2011 Lehrer an einem Oberstufengymnasium in Wiesbaden in den Fächern Wirtschaftswissenschaften und Politik und Wirtschaft sowie bis 2013 Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Didaktik der Sozialwissenschaften und der politischen Bildung an der Universität Frankfurt. Seit einigen Jahren betreibt er familienhistorische Recherchen.
Denn der Großvater stammte zwar von beiden Elternteilen aus wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilien ab. Doch er konvertierte als Erwachsener zum Christentum, zum Katholizismus. So zeigen seine Verfolgungserfahrungen zur Nazizeit, wie mit ihm als „nichtarischem“ Christen umgegangen wurde, und sein Erleben zeigt die konkreten Ausprägungen der übergeordneten Geschichte, das Ineinander von Zeit- und Familiengeschichte. Sehr zu Recht hebt Micha Brumlik die in dem Buch gelingende Verschränkung biografischer und sozialgeschichtlicher Darstellung hervor.
Lange beschwiegen – Verborgene Familiengeheimnisse der Seidenbergers
Seine soziale/religiöse Herkunft sollte dabei in der Entrechtung und Verfolgung durch die Nazis prägend bleiben und sein sowie das Leben seiner Familie damit einschränken, voneinander isolieren. Nur ihr Zusammenwirken und glückliche Umstände vermochten dies schließlich wieder aufzuheben. In der Familie schwieg man daher die meiste Zeit über die Vergangenheit. Die Eltern des Verfassers sprachen lange nicht über das Judentum, nach den Kriterien der Nazis wären sie „Halbjuden“ gewesen, die Großeltern Ernst und Clara, sie war protestantischer Konfession, lebten in „privilegierter Mischehe“.
Der Vater des Verfassers, Heinz Neumaier, hatte eine jüdische Mutter, Caroline Rosenmann, wurde aber wie seine Brüder katholisch getauft. Er war in erster Ehe mit einer „Arierin“ verheiratet, später mit Inge, geborene Seidenberger. Versuche, mithilfe Verwandter, so des Vetters George Wald, der 1967 den Nobelpreis für Medizin erhielt, in die USA auszuwandern, misslangen.
Von besonderer Bedeutung für die weitere Aufklärung der Geschichte Ernst Seidenbergers wurden zwei ausführliche Schreiben, die er 1936 und 1939 für seine Töchter verfasste, und zwar in folgender Absicht: „Aufzeigen will ich nur den tragischen Bruch, der durch dieses Leben geht und vor dem der Himmel sie und die, die nach ihnen kommen, bewahren möge.“
Einschluss der Vergangenheit in Angst und Distanz begründet
Peter Neumaier ließ seine Mutter, als diese dazu bereit war, die für ihn schwer lesbaren Briefe ihres Vaters diktieren, die sie aber auch erst aus dem Nachlass ihrer Schwester gelesen hatte. Erst in den späten 1980er Jahren war in ihr der Wunsch der Betrachtung der NS-Vergangenheit entstanden. Sie hatte sich zuvor „nie mit den Verfolgten identifizieren wollen“.
Verfasser Neumaier sieht den Einschluss der Vergangenheit etwa in der Angst vor Ausgrenzung und Verfolgung und der väterlichen Distanz zur jüdischen Religion begründet. Sie erreichte damit, „Schrecken, Scham und Schuldgefühle gegenüber dem von der Familie getrennten Vater nicht spüren zu müssen“ – diese Gefühle spürte sie im Alter. Seine Schreiben enthielten so nicht nur wichtige biografische Angaben, sondern zeigten auch sein Denken und verdeutlichten seine Auffassungen und Einschätzungen der sich zuspitzenden historischen und sozialen Lage.
Ernst Seidenberger hielt darin 1936 fest: „Ich bin am 19. Februar 1877 in Nürnberg als Kind jüdischer Eltern geboren. Diese letztere Tatsache betone ich des heutigen Zeitgeschehens wegen“. Seine Eltern stammten „aus der Badischen Pfalz. Der Vater geboren in Schwetzingen, die Mutter in Mannheim.“ Urkundliche Nachweise zu den weiteren Vorfahren besitze er nicht.
Die Seidenbergers und ihre Verbindung zu Schwetzingen und Mannheim
Doch zur Familie in Schwetzingen schrieb er: „Mein Großvater väterlicherseits [Maier Seidenberger] besaß Grundeigentum in Schwetzingen, war an den Erhebungen des Jahres 1848 beteiligt und deshalb gefangengesetzt.“ Sein Vater sei im Krieg 1870/71 freiwilliger Krankenpfleger gewesen, seine Kindheit durch ihn „erfüllt von seinen Erzählungen aus dieser für ihn größten vaterländischen Zeit“, wobei die Erinnerungen „und die Anhänglichkeit an das badische großherzogliche Haus“ in seinem ganzen Leben fortbestanden hätten.
Der Vater sei ein loyaler Bürger und anständiger Geschäftsmann geworden und seine Frau, die Mutter, habe aus vergleichbarem Haus gestammt. Ihre Eltern besaßen ein Haus in Mannheim. Womöglich wurden die Prägungen des Vaters auch für den Sohn grundlegend und wesentlich.
Seidenberger studierte Jura in München, Berlin, Heidelberg und Erlangen, machte sein Referendariat in Nürnberg, promovierte und war ab 1903 nach der zweiten Prüfung als Rechtsanwalt zugelassen und tätig. Er zog nach München und begründete dort 1906 eine eigene Kanzlei. 1909 heiratete er seine Frau Clara geborene Ehrhart, protestantischen Glaubens.
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Seidenberger hatte aus nationaler Überzeugung als einjährig Freiwilliger nach dem Abitur Militärdienst geleistet, während des Weltkrieges war er von 1914 bis zu einer Erkrankung 1917 „Frontkämpfer“.
Von seiner Anwaltstätigkeit in München ist bekannt, dass er in den frühen 1920er Jahren dort Anwalt des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller war. So hatte sich Oskar Maria Graf für die bayerische Revolution 1918/19 eingesetzt. Um ihn aus der gefährlichen Lage, und zwar aus dem Gefängnis frei zu bekommen, wandte sich Rilke an Seidenberger, der Graf tatsächlich auch aufgrund verschiedener Fürsprecher frei bekam. 1925 wurde dem Anwalt der Titel Justizrat verliehen.
Scheidung zum Schutz
Andererseits wurde München historisch „zum Vorreiter der antisemitischen und nationalsozialistischen Bewegung“. 1933 begann die systematische Verfolgung jüdischer Juristen, bayerischer „Justizminister“ wurde Hans Frank, späterer „Generalgouverneur“ in Polen, Gauleiter war Streicher. Sie wollten Juden aus dem Rechtsleben ausschalten, 1938 wurden alle Ausnahmeregelungen aufgehoben.
1939 war Seidenbergers Kanzlei geschlossen worden, die großelterliche Ehe wurde auf seine Initiative hin geschieden. Er lebte von der Frau und Familie getrennt in einer kleinen Wohnung in München. Der Großvater hatte sich zu deren Schutz von seiner Frau getrennt, nicht umgekehrt. Er dachte an Selbstmord. Da kommt es zu entsozialisiert und entsolidarisiert anmutenden Alltagsszenen, wie während eines Bombenalarms, als seine Tochter Inge mit ihrer Mutter und Schwester in den Hauskeller durfte, der geschiedene Vater aber nur in den öffentlichen Luftschutzkeller.
Oder dass sie, als sie ihre Eltern in einer Gaststätte sah, den Vater aber nicht grüßte – und sie mit einem Wehrmachtsoffizier zusammen war. 1941 waren „freundschaftliche Beziehungen zu Juden in der Öffentlichkeit“ für „deutschblütige Personen“ mit Strafe bedroht. So kam es, beruflich wie privat, infolge des nazistischen Vorgehens gegen Juden (und wie sie Eingestufte) zu einer zunehmenden Vereinsamung der Verfolgten. Zwar versuchten die Seidenbergers, die Familie zu schützen, doch hätte dies dem als jüdisch eingestuften Partner direkt oder später schaden können. Die Ehe mit der „christlichen“ Partnerin war nicht mehr „privilegiert“, da sie aufgelöst wurde. Im Gegenteil, der Großvater stand in der Gefahr, direkt danach deportiert zu werden.
Isolierung und Distanz
Neumaier beschreibt das Voranschreiten der NS-Verfolgung und den Beginn des Massenmords in der immer weiter vereinzelten Stellung der Verfolgten. Immer weitergehend wurden sie entrechtet, immer weiter wurde der Großvater „aus dem Netz seiner Berufskollegen und der Institutionen seiner bisherigen Tätigkeit herausgerissen“. Von Bekannten getrennt, der Familie immer weiter entfernt, gezwungen zum Wechsel der Wohn- und Kanzleiorte in München: Mit der Scheidung und Kanzleischließung existierte er endgültig in einer ,Welt ohne Nachbarn‘.“ Diese „Auslöschung des Antlitzes“, die Anonymisierung der Betroffenen, führten zur Isolierung auf der einen und Distanz auf der anderen Seite: „eine der wichtigen Voraussetzungen für den erfolgreichen und ,ungestörten‘ Massenmord des Nationalsozialismus“.
Zur Regelung letzter rechtlicher Belange von Juden sollten diese durch „jüdische“ Juristen vertreten werden, denen man den Titel Rechtsanwalt entzogen und die Rechte deutlich eingeschränkt hatte. Doch so übernahm der Großvater die Aufgabe eines sogenannten „Konsulenten“, bis seine Kollegen als „Konsulenten“ sämtlich deportiert und ermordet wurden, und er von 1943 bis zur Ausbombung der Kanzlei 1944 der letzte Münchner „Konsulent“ sein sollte. Von 1942 bis 1943 musste er gar zudem noch bei einer Anlagenbaufirma Zwangsarbeit leisten.
Grausamkeiten durch die Gestapo - Eine schreckliche Inhaftierung
Noch am 26. Januar 1945 wurde er von einem Gestapo-Mann verhaftet, der ihm zudem seine gesamte Barschaft raubte. Er wurde von der Gestapo in das Arbeitserziehungslager Moosach verbracht, von wo aus am 21. Februar die Deportation ins KZ Theresienstadt erfolgte. Dieses letzte Vorgehen des Reichssicherheits-Hauptamts, das sich gegen die jüdischen Partner aus „Mischehen“ richtete, konnte aber nicht mehr zum tödlichen Ende gebracht werden.
Während er bereits inhaftiert worden war, stellte ein Gerichtsvollzieher eine Verfügung über die Einziehung seines Vermögens zu, das es seinerzeit nicht mehr gab. Die Zustellung wurde vermerkt, obwohl sie an einer Adresse erfolgt wäre, an der Seidenberger nie wohnte, ja, deren Hausnummer es in der Straße nie gab. Im März wandte sich die Reichs-Rechtsanwaltskammer an Seidenberger, die offensichtlich nicht darüber informiert war, dass die Gestapo ihn an der Berufsausübung hinderte, dass überhaupt kein „Konsulent“ mehr im Münchner Bereich tätig war. Ende März widerrief der Reichsjustizminister die Zulassung als „Konsulent“.
Auf einem kleinen Zettel notierte Seidenberger in Theresienstadt in zwei Zeilen lapidar: „Liebe habe ich nicht gefunden, so suche ich den Frieden. / ,Wehe dem, der allein ist‘ (Prediger 4,10)“. Er arbeitete wohl in der Bibliothek des Ghettos. Als er am 27. Juni 1945 nach München zurückgebracht wurde, befand sich Seidenberger in schlechter seelischer und körperlicher Verfassung.
Erneute Heirat und ein Neuanfang
Danach aber erhielt Familie Seidenberger eine repräsentative Wohnung, und einen Monat nach dem Einzug hier heirateten sie im Oktober 1945 erneut, standen letztlich als Eheleute doch zusammen. Seit Beginn dieses Monats wurde auch die Kanzlei neu begründet. Allerdings erhielt der Großvater für die Ausstattung eine „Soforthilfe“ erst im Jahr 1956. Im Zusammenhang mit dem fortbestehenden Antisemitismus verteidigte Seidenberger entschlossen davon betroffene jüdische Geschäftsleute.
Er engagierte sich in der Anwaltskammer, wurde zum Berufungsgericht der Alliierten Kommission zertifiziert und folgte der Landesjustizverwaltung in deren Wunsch, sich in Bezug auf das Entschädigungsgesetz einzubringen. Dabei konnte er seine tragischen Erfahrungen mit den vielfältigen, den Verfolgten auferlegten Belastungen, Benachteiligungen, Entziehungen, Schädigungen bis hin zu Raub und Enteignung genau anführen. Er zeigte sich bereit, als einer der wenigen unbelasteten Juristen nach der Befreiung sich für die Festschreibung der Rechte der verfolgten und der überlebenden „jüdischen“ Anwälte einzusetzen, seiner eigenen mangelnden Religiosität und Konversion zum Trotz.
Er wurde für seine Beteiligung an dieser Rechtssetzung schließlich auch staatlicherseits ausgezeichnet. Dass die entsprechende Bürokratie ihm größte Probleme bereiten und eigene berechtigte Forderungen zurückwies, war zu erwarten, und so zogen sich die Verhandlungen hin, mit oft negativem Ausgang für das Opfer. Enteignungen von Geld bis Grundstücken wurden kaum oder unzureichend ausgeglichen. Opa Ernst starb 1957.
Die Nachwirkungen der Geschichte
Insbesondere erfuhr der Verfasser durch seine Recherchen zudem von einer weit größeren Zahl Verwandter, die „in Piaski, Theresienstadt und Auschwitz umgebracht“ worden war, als ihm bisher bekannt war, und andererseits von einem anderen Teil der Familie, der in die USA und nach Südafrika fliehen und dort neue Familien gründen konnte.
Verfasser Neumaier verdeutlicht schließlich, dass dadurch, dass die Befreiung vom Nazismus noch rechtzeitig erreicht werden konnte, mit den sogenannten jüdischen „Mischlingen“ so verfahren worden wäre wie mit den anderen Juden, sie wären ermordet worden: „Meinen Bruder und ich haben unsere Existenz insofern nur wenigen Monaten eines für uns lebensrettenden Geschichtsverlaufes zu verdanken, dessen Nachhaltigkeit durch den Tag der Befreiung, den 8. Mai 1945, garantiert wurde“.
Daher ist allen Anhängern des Antisemitismus als Fanatikern, Hörigen und Barbaren entgegenzutreten – mit Aufklärung, Politik, Recht und Selbstachtung.
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