Schwetzingen/Ketsch. In diesen Tagen erreicht das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus einen Höhepunkt im Jahr, denn am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. Unendliches Leid war dort geschehen, viel Schmerz und Trauer um den Verlust ganzer Familien bleibt für immer. Im Jahr 1996 rief der damalige Bundespräsident Roman Herzog den Tag der Befreiung von Auschwitz zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ aus, die Vereinten Nationen schlossen sich im Jahr 2005 an und erklärten den 27. Januar zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“. Seitdem werden an vielen Orten Gedenkstunden gehalten und die Namen der Opfer verlesen. So auch in Schwetzingen am Mahnmal gegenüber dem Rathaus, wo auf einer Tafel die zu Schwetzingen gehörenden Namen verzeichnet sind. Auch dieses Jahr wegen der Pandemie leider nur für geladene Gäste. Deshalb wollen wir als Zeitung die öffentliche Erinnerung wachhalten:
Namen sind unverzichtbar, damit die Einzelnen nicht vergessen werden. Aber dazu braucht es die Geschichten ihres Lebens voll Freud und Leid. In den folgenden Beiträgen soll insbesondere an einige Kinder erinnert werden, die in den Jahren 1930 bis 1941 geboren wurden und deren kurzes, gewaltsam beendetes Leben mit Schwetzingen oder Ketsch verbunden war und ist.
Mit 15 Pflegehelferin im Sanatorium
Das jüngste der fünf Kinder, an die erinnert werden soll, war Chana Baer. Verbunden mit Schwetzingen ist sie, weil ihre Mutter Paula in der Maximilianstraße mit einem Bruder und drei Schwestern aufwuchs. Aus der Familie Bermann ging sie mit 15 Jahren nach Nordrach bei Offenburg als Pflegehelferin an das dortige Sanatorium Rothschild. Im Jahr 1939 musste sie mit anderen Evakuierten aus der Nähe zu Frankreich Nordrach verlassen und fand Aufnahme bei der jüdischen Gemeinde in Halle an der Saale, wo auch ihr zukünftiger Ehemann Günther Martin Baer und weitere Juden aus Karlsruhe Zuflucht suchten in der Hoffnung später zurückwandern zu können.
Beide heirateten im Oktober 1940 in Halle. Die zukünftigen Eltern, untergekommen mit vielen anderen Gästen in einem vollbelegten sogenannten „Judenhaus“, entschlossen sich, dass ihr Kind im Jüdischen Krankenhaus in Hannover zur Welt kommen sollte. So reiste die schwangere Paula Baer nach Hannover. Am 2. Februar 1941 um 23.20 Uhr wurde dort das Mädchen Chana geboren. Sie erhielt gemäß jüdischer Tradition den Vornamen ihrer Großmutter mütterlicherseits: Hannchen Frank – geborene Falk. Eltern und Kind mussten allerdings weiterhin in sehr beengten Verhältnissen wohnen. Eineinviertel Jahre durften sie ihre kleine Tochter aufwachsen sehen, da erhielten sie die Aufforderung, sich zur „Abwanderung nach dem Osten“ bereit zu halten.
Erst waren es nur Ahnungen
Wohin sollte es gehen, warum Richtung Osten, wozu überhaupt? Alles blieb geheim und höchstens von Ahnungen, auch manchem Hörensagen, besetzt. Auf dem Bahnhof bestieg Familie Baer am 31. Mai 1942 mit weiteren 152 Jüdinnen und Juden aus Halle einen Zug, der aus Kassel kam und in den dort schon bei der Abfahrt 423 Personen aus der Region gestiegen waren. Das Ziel war das Vernichtungslager Sobibor im östlichen Polen, das der Zug der Deportierten am 3. Juni 1942 erreichte. Kaum ein Zweifel besteht darin, dass die Familie Baer bald nach der Ankunft ermordet wurde.
Ob Günter Baer wie einige der Männer bei einem Zwischenhalt in Lublin/Ostpolen als arbeitsfähig für die Zwangsarbeit im KZ Mauthausen ausgesondert wurde, ist nicht sicher. Aber seine Spuren sind jedenfalls verloren. Im „Gedenkbuch Rückwanderer“ in Halle wird Chana als jüngstes Opfer vermerkt.
Nahezu zehn Jahre vor Chana wurde Lothar Metzger am 31. Januar 1932 in Gießen geboren. Die Eltern Siegmund Metzger und Johanna, geborene Rosenthal, hatten im März 1927 in Ketsch geheiratet, wo Siegmund mit zwei Schwestern und einem Bruder aufgewachsen war. Die Familie lebte in Münchholzhausen bei Wetzlar, bis die Aufforderung kam, sie sollten sich zur „Abwanderung“, amtssprachlich beschönigend für Deportation benutzt, bereithalten. Mit 988 Menschen jüdischer Herkunft mussten sie am 22. November 1941 in Frankfurt am Main den Zug mit unbekanntem Ziel besteigen, der am 25. November endlich in Kowno/Kaunas in Litauen ankam. Wie sollten sie nur die Fragen ihres beinahe zehn Jahre alten Kindes beantworten: „Wohin fahren wir, was machen wir und die vielen anderen Menschen im Zug dort?“ Sie wussten es ja selbst nicht.
Das Grab zum Gedenken fehlt
Am unbekannten Ziel angekommen wurden sie zusammen mit ebenfalls kürzlich Eingetroffenen aus Berlin und München von einer Einsatzgruppe der SS im Fort IX außerhalb der Stadt erschossen und im Massengrab verbuddelt. Wie für Hundertausende fehlt zum Gedenken ein Grab, für Juden bis zur Wiederkunft des Messias als fromme Pflicht zu erhalten. So bleibt die Trauer um Lothar Metzger und seine Eltern und die Erinnerung an sie mit ihren Namen, die zum Gedenken genannt werden, allein möglich.
Quelle: Halle an der Saale: Gedenkbuch Rückwanderer
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