Liebe. Hass. Wut. Trauer. Vergeltung. Freundschaft. Gnade. Sünde. Verlangen. Lust. Zerstörung. Selbstzerstörung. Leben eben. William Shakespeares Hamlet entstand um 1600, doch der Inhalt aus dem Mittelalter galt zu dieser Zeit wie auch davor und ist genauso heute noch aktuell. Das hat Joerg Steve Mohr wunderbar in seiner Inszenierung des Klassikers umgesetzt. Hamlet im Theater am Puls (TaP) in Schwetzingen lässt eine Menge Raum für Interpretationen und das nicht nur wegen der derzeit maximal zulässigen Besucherzahl von 28 Personen.
Mohr ist es gelungen, einen zeitgemäßen Hamlet zu schaffen und hat diesem seine Handschrift mustergültig aufgedrückt. Er hangelt sich dabei am Stoff der Tragödie in ihren Grundzügen entlang, behält Textpassagen bei, hier und da (etwas frivol) aufgepeppt, und trotz aller Dramatik mit einer dezenten Prise Humor versehen. An verbalen Wow-Effekten, die möglicherweise nicht jeden Geschmack treffen, hat er nicht gespart. Und die Protagonisten reduzierte er auf sieben – jeder für sich brillant besetzt.
Allen voran ein überragender Denis Bode als Horatio. Der Freund Prinz Hamlets und Mittler innerhalb der Familie nimmt die Erzählerrolle ein (auch mal Banane essend) und baut die Brücke zu den Zuschauern, um gemeinsam das Geschehen im Staate Dänemark zu erörtern.
Zur Erinnerung: Nach dem Tod des alten Dänenkönigs gibt es einen Machtwechsel am Hofe von Helsingör. Dessen Bruder Claudius (exzellent undurchschaubar dargestellt von Michael Hecht) lechzt nach der Macht und der Schwägerin, Hamlets Mutter Gertrud (hervorragend zwischen liebender Mutter, gebrochener Frau und machtloser Majestät: Beate Krist). Nach einer Geistererscheinung seines Vaters weiß Prinz Hamlet nicht mehr, was und wem er noch glauben soll: dem Staat oder seinen Sinnen? Nikolas Weber, der unter anderem in Fucker und als Mephisto in Faust im TaP überzeugte, scheint wie geschaffen für diese Rolle: Ein junger Mann zwischen zerbrechlichem Wahnsinn und wütender Entschlossenheit, uneins mit sich und der Rationalität der Welt, fremdgesteuert von Emotionen. Weber bringt alles mit, was Hamlet verkörpert – aus seinem Inneren heraus und äußerlich. Er wälzt sich auf dem Erdboden (ja, echter Erdboden, etwa vier Kubikmeter) und schreitet splitterfasernackt zur Tat, um den Onkel mit seinem Schauspiel „Die Mausefalle“ zu kompromittieren. Eine Bloßstellung im wahrsten Sinne des Wortes, die herrlich weitläufig gefasst ist – ein freizügiger, unbewaffneter Hamlet lässt in seinem vermeintlichen Wahn die Mächtigen, den Mörder, nach seiner Pfeife tanzen. Und alle machen, was er will. Da schmiedet Claudius den Plan, Hamlet wegzuschicken („Sein Freisein heißt Bedrohung“). Ziel: England – dort seien eh alle irre, da falle Hamlet nicht auf.
Immer wieder eine Überraschung
Da wäre noch Hamlets Zuneigung zu Ophelia. Sina Große-Beck glänzt als hörige Tochter von Polonius (Christoph Kaiser haucht diesem zwiespältigen Charakter erstklassig Leben ein), brave Schwester von Laertes (von solider Qualität: Daniele Veterale) und gleichzeitig lustvolle Geliebte Hamlets. Eine Liebe, die nicht sein darf, entscheidet ihr Vater, missbraucht jedoch die Gefühle der Tochter, um der angebeteten Königin und Claudius zu gefallen, indem er den Grund für Hamlets Verhalten klären will. Das kostet ihm später das Leben.
Wer an dieser Stelle dem berühmten Monolog entgegenfiebert, wird – nun ja, sagen wir: überrascht. Ophelia rezitiert, während sie auf Hamlet wartet, „to be or not to be“ (sein oder nicht sein) aus einem alten Wälzer. „Shakespeare“ steht in goldenen Lettern auf dem Einband. „Shakespeare“, sagt sie verächtlich, schlägt das Buch zu und wird dabei von Staub umhüllt. Mehr Symbolkraft geht nicht. Horatio übersetzt die bekannten Monologzeilen ins Deutsche, Hamlet kommt und liest ebenfalls an. Das war’s. Hamlet ist eben mehr als Sein oder Nichtsein. Hamlet ist Kampf – gegeneinander, mit sich selbst. Siehe Ophelia: Ihr fehlt letztlich der Mut, zu ihren Gefühlen zu stehen. Sie zerbricht daran, zelebriert ihr Durchgeknalltsein mit laszivem Gesang im Negligé und ertrinkt schließlich – zuerst Tabletten nehmend im Alkohol, dann im Bach.
Das Schicksal nimmt seinen Lauf und es kommt zum Showdown mit einem Kampf rein akustisch, jedoch viel Blutvergießen („Theaterblut“) optisch: Laertes verletzt Hamlet mit dem vergifteten Schwert, dieser erdolcht wiederum ihn mit der präparierten Waffe, die er im Handgemenge ergattert hat, währenddessen trinkt die Königin vom vergifteten Wein, den Claudius sicherheitshalber für Hamlet noch bereitgestellt hatte, um diesen auch wirklich zu töten. Aus Wut zwingt Hamlet Claudius ebenfalls, vom Wein zu trinken. Horatio bleibt am Ende übrig und ein Publikum, das erst nicht weiß, ob jetzt wirklich Schluss ist, und dann applaudiert, als gäbe es kein Morgen. Grandios!
Spannende Blickwinkel
Mit Mohrs Interpretation erhält Halmet die Note, die ihn heute für Schüler und Erwachsene gleichermaßen spannender, wenn nicht sogar verständlicher macht. Ob es unbedingt den Nackedei auf der Bühne braucht, sei dahingestellt. Hübsch anzusehen ist Nikolas Weber allemal und im 21. Jahrhundert sollte auch Nacktheit kein Problem mehr in der Kunst sein dürfen. Spannend sind die Blickwinkel, mit denen Mohr und seine Regieassistentin Laura Schubert arbeiten. Etwa die Ansicht des Publikums auf das Schauspiel „Die Mausefalle“ – zuerst blickt es von vorn auf das Geschehen. Dann – nach der kurzen Pause der rund zweieinhalbstündigen Inszenierung – sitzt es hinter der Königin und Hamlet. Mohr arbeitet mit der Sprache in verschiedene Richtungen – mal nach Script, mal frei. So wird aus der „keuschen Schatztruhe“ (Laertes zu seiner Schwester in Bezug auf deren Jungfräulichkeit) auch einfach mal die „Muschi“ (Ophelias Wortwahl für selbige). Er bedient sich moderner Szenarien: Hamlet und Horatio koksen munter, Laertes reist in Selbstmordattentäter-Manier mit Sprengstoffweste am Hof an und Nachrichten werden per Smartphone parallel zum versiegelten Brief verschickt.
Im Theater selbst taten der Einsatz von Bühnenbild (Mohr, Teresa Ungan, Bernd Spielbrink), Ausstattung (Teresa Ungan) sowie Licht- und Tontechnik (Stefan Schneider, Tobias Disch, Felix Rieseberg) ihr Übriges zur Wirkung – alles wohl dosiert und harmonisch arrangiert.
„Mehr Beinfreiheit“
„Es ist klasse dargestellt“, bringt es Claudia Hahne auf den Punkt, so, wie sie das vom Theater am Puls gewohnt sei. „Moderner eben“, sagt die Frankenthalerin, die mit Petra Hahne die ausverkaufte Premiere am Samstag besucht. Beide sind bekennende TaP-Fans. „Das ist ein Theater, das man unterstützen muss“, bekunden sie nicht nur verbal, sondern lassen auch Taten folgen – und das nicht nur in Bezug auf ihre Anreise. Hamlet loben sie und gestehen, dass sie auch schon beim Sommer-Open-Air die szenische Lesung verfolgt haben. Wegen der „Liebe zu diesem Theater“ haben sie auch in Corona-Zeiten den Weg nicht gescheut, selbst wenn die lediglich 28 Sitzplätze genauso ungewohnt sind wie die Maskenpflicht bis zum Stuhl und im Foyer. Aber selbst bei den hinnehmbaren Einschränkungen finden sie noch etwas Positives: Man habe jetzt „mehr Beinfreiheit“. Schade nur, dass nicht so viele Menschen die Stücke sehen könnten, bedauern sie.
„Das Hygiene-Konzept erscheint durchdacht“, findet der Grünen-Landtagskandidat Dr. Andre Baumann, der – wie Oberbürgermeister Dr. René Pöltl – im Publikum saß. Er begrüßte, dass Stadt und Land einen Weg gefunden haben, „unser Theater am Puls in der Corona-Krise finanziell zu unterstützen“. Bleibt zu hoffen, dass diese Unterstützung fortgeführt wird. Denn das TaP zeigt mit Hamlet einmal mehr, welche Klasse es hat und wie erhaltenswert es ist.
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Weitere Termine und Tickets
Hamlet: 17. Oktober (19 Uhr), 23. Oktober (20 Uhr), 1. November (17 Uhr), 14. November und 28. November (jeweils 19 Uhr).
Karten kosten 24/18/12 Euro und gibt’s im SZ-Kundenforum, unter der Nummer 06202/9 26 99 96 und unter www.theater-am-puls.de. kaba
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