Serie Kinder im Holocaust (Teil 3)

Geboren in ein Leben ohne Zukunft

Der Schwetzinger Kurt Glöckler erinnert rund um den Gedenktag 27. Januar an das Schicksal jüdischer Mitbürger wie Robert Goldschmidt.

Von 
Kurt Glöckler
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Schwetzingen/Ketsch/Brühl. Was stellte sich wohl eine jüdische Mutter in Deutschland am Anfang des Jahres 1938 vor, als sie ihr Kind auf die Welt brachte? Das Beste von allem natürlich und reichlich bunt. Aber das war unter den gegebenen Umständen mehr Hoffnung und Erwartung als Wirklichkeit.

Denn die Welt um die Eltern von Robert Goldschmidt war anno dazumal grau, eingeschränkt und beschwerlich wie für alle Juden in Deutschland, als er am 9. Januar 1938 im jüdischen Krankenhaus in Frankfurt am Main geboren wird. Die Eltern – das kam noch dazu – hatten sich knapp ein Jahr zuvor getrennt. Die Verbindung nach Ketsch zu den Großeltern Rhein und zu den Geschwistern der Mutter war ebenfalls unterbrochen: Sie waren inzwischen nach Eudora und Little Rock in Arkansas/USA ausgewandert.

Tipp von der Cousine aus Brühl

Die junge Mutter Lina Goldschmidt – auf sich allein gestellt – brauchte also Hilfe und Begleitung. Diese fand sie in einem 1907 eröffneten „Heim für sozial entwurzelte jüdische Mädchen, unverheiratete Schwangere und Mütter mit ihren Kindern“, so die offizielle Bezeichnung, in Neu-Isenburg. Dieses Haus wurde von der jüdischen Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim gegründet. Ihre Initiative machte das Heim zu einem Ort der Zuflucht, der Erziehung und Ausbildung jüdischer Frauen und Kinder. Manche von ihnen blieben nur wenige Tage, manche für einige Jahre. Möglicherweise war Lina Goldschmidt dorthin auf Empfehlung ihrer Cousine Lenchen Rhein aus Brühl gegangen. Diese hatte im Jahr 1921 ebenfalls von Neu-Isenburg aus im jüdischen Krankenhaus in Frankfurt eine Tochter geboren und konnte die Kleine im Heim „Isenburg“ einige Monate lassen.

Linas Söhnchen Robert blieb ebenfalls bis Ende November 1938 dort und kam dann zu einer jüdischen Familie zur Pflege. Lina Goldschmidt nahm inzwischen eine Stelle als Haushaltshilfe in Karlsruhe an, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Frankfurt war ja für Besuche noch erreichbar.

Dann kam der 22. Oktober 1940. Ohne Ankündigung wurde die junge Frau und Mutter wie über 6000 Juden aus Baden und der Saarpfalz in das südfranzösische Lager Gurs verschleppt, untergebracht im beginnenden Winter in Baracken unter unmenschlichen Bedingungen. Dort musste sie bis in den August 1942 ausharren, als auf Befehl der deutschen Besatzungsmacht die Lagerinsassen in Zügen zuerst in das Sammellager Drancy bei Paris und dann in das Vernichtungslager Auschwitz transportiert wurden. Dort wurde Lina Goldschmidt ermordet. Auch der Vater von Robert, Felix Goldschmidt, wurde aus seinem Heimatort Schlüchtern in Hessen deportiert, nachdem er am Tag nach der Reichspogromnacht am 9./10. November 1938 bis zum Januar 1939 in das Konzentrationslager (KZ) Dachau verbracht wurde. Mit einem Transportzug aus Kassel über Halle erreichten die Deportierten Sobibor in Ostpolen und wurden nach ihrer Ankunft ermordet.

Der Sohn Robert war nun Waise, auch musste er seine Pflegefamilie verlassen. Auf Vermittlung der jüdischen Wohlfahrtspflege, die nun für ihn zu sorgen hatte, konnte er in das „Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge“ in Frankfurt Sachsenhausen, Hans-Thoma-Straße 24, aufgenommen werden. Zweck des Kinderhauses war es, „bedürftigen israelitischen Kindern unentgeltlich oder gegen mäßiges Entgelt Obhut, Verpflegung und Unterweisung zu gewähren …“

Mit sechs Jahren vergast

Das behütete Leben im Heim in der Gemeinschaft von zeitweise 70 Kindern im Alter zwischen ein bis 14 Jahren fand wenige Monate nach Roberts Einzug für ihn, 41 Mitbewohner und sechs Begleiter durch die gnadenlose Rassenpolitik ein jähes Ende. Die Zugfahrt der Deportation ging das KZ Theresienstadt (Terezin) in Nordböhmen. Am 16. September 1942 erreichte der Zug aus Frankfurt das völlig überbelegte Ghetto, welches ursprünglich für ältere Juden in einer ehemaligen Festung eingerichtet wurde.

Bei allem Mangel an Nahrung, Hunger und Krankheit gelang es den Helfern mit Rabbiner Leo Baeck, die Kinder im Lager zu betreuen, obwohl sie sahen, dass immer wieder Gruppen weiter verlegt wurden und nicht mehr zurückkamen. So wurde zwischen dem 16. und 19. Mai 1944 auch Robert Goldschmidt nach Ausschwitz in das sogenannte „Familienlager Theresienstadt“ gebracht und mit etwa 7000 Männern, Frauen und Kindern am 11. und 12. Juli 1944 in den Gaskammern ermordet. Damit war das Familienlager geschlossen.

In Anbetracht solchen Todes sollten wir lange schweigen und dann einstimmen in den Ruf der Namen, wie sie in unserer Erinnerung auf unsichtbaren Grabsteinen stehen. Wir stimmen stellvertretend ein mit dem traditionellen Wunsch, der jede jüdische Grabinschrift schließt: Ihre Seelen seien eingebunden in das Bündel des Lebens!

(Quellen: Gedenkbuch Neu Isenburg, https://gedenkbuch.neu-isenburg.de/ und „Dokumentation zu vom NS-Staat verfolgten Personen im Frankfurter Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge e.V. Hans- Thoma-Straße 24“, Volker Mahnkopp, https://www.platz-der-vergessenen-kinder.de/home)

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