Schwetzingen. Die „Nachteule“-Lesung im ausverkauften Franz-Danzi-Saal in Schwetzingen war eine Premiere. Erst im August ist der Roman erschienen, den Ingrid Noll noch nicht vor Publikum vorgestellt hatte. „Deshalb bin ich selbst etwas aufgeregt“, gesteht die Autorin. Das jüngste Buch sei für sie wie ein Baby, das noch besondere Aufmerksamkeit und Pflege brauche.
1991 veröffentlichte Ingrid Noll ihren ersten Kriminalroman „Der Hahn ist tot“. Mehr als 20 Bücher folgten, ihre Werke wurden in 27 Sprachen übersetzt. Bereits zum 13. Mal ist die Grande Dame des deutschen Krimis nun Gast der Volkshochschule Schwetzingen. Leiterin Carolin Brunner bedankte sich besonders bei ihrer Vorgängerin Gundula Sprenger, die den Kontakt zur Schriftstellerin wiederhergestellt hatte.
Ingrid Noll ist Ehrenhauptkommissarin mit Bundesverdienstkreuz
Bevor die Lesung begann, stellte Carolin Brunners Stellvertreter Hermann Ungerer-Henriquez, verantwortlich für den künstlerischen Bereich, Etappen aus Ingrid Nolls Leben und Schaffen vor. Zahlreiche Preise und Ehrungen hat die Autorin bereits erhalten, darunter den Friedrich-Glauser-Preis und den Ehrenpreis der Autoren für ihr Gesamtwerk. Sie ist Ehrenhauptkommissarin der Mannheimer Polizei und Ehrenbürgerin von Weinheim. Noll selbst ist immer wieder verblüfft über die vielen Auszeichnungen – zumal ihr die meisten für Mord und Totschlag verliehen wurden.
Dass sie sich aber auch gesellschaftlich engagiert, zeigt das Verdienstkreuz des Bundes am Bande, das ihr im Februar verliehen wurde. Der Orden ist eine Anerkennung der Bundesrepublik für Verdienste um das Gemeinwohl. Kinder für das Lesen und die Sprache zu begeistern, liegt Ingrid Noll besonders am Herzen.
„Nachteule“: Außenseiterin mit besonderen Fähigkeiten
In „Nachteule“ blickt die Studentin Luisa zurück auf ihr 15-jähriges Ich. Bereits als kleines Kind wurde sie, ursprünglich aus Peru stammend, von ihren Eltern adoptiert. Aufgewachsen in einem schönen Haus am Waldrand, hat sie die Bürgerlichkeit mit den Sprichwörtern ihrer Mutter längst verinnerlicht. Sie gilt als Streberin, die wenig mit Gleichaltrigen verbindet. Freunde hat Luisa keine – sie glaubt, dass dies vor allem an ihrem äußeren Anderssein liegt.
Tim, der Obdachlose, dem sie im Wald begegnet, ist anders als die Menschen, die sie kennt. Er spricht sie nicht auf ihr exotisches Aussehen an, gibt sich hilfsbedürftig, charmant – und manipuliert Luisa perfekt für seine Zwecke. Ihre Einsamkeit macht es ihm leicht. Als die ungeliebte Nachbarin Frau Müller-Walda ermordet aufgefunden wird, ahnt Luisa, dass ihr neuer Freund etwas damit zu tun hat. Dennoch bleibt sie sein „Engel“.
„Nachteule“ ist nicht nur ein Krimi, sondern auch ein Blick hinter die Fassade einer scheinbar glücklichen Familie. Luisas Eltern verschweigen ihre Ehekrise ebenso wie die besondere Begabung der Tochter: im Dunkeln sehen zu können. Das Schwetzinger Publikum fieberte mit – das Ende verriet die Autorin jedoch nicht. „Ich kann Ihnen ja nicht das ganze Buch vorlesen.“
Am 29. September feiert Ingrid Noll ihren 90. Geburtstag. Oft wird sie gefragt, warum sie für das neue Buch ausgerechnet eine 15-jährige Protagonistin gewählt habe. „Natürlich hat sich seit meiner Jugend viel verändert. Die Emotionen zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex durchleben junge Mädchen aber heute so wie damals. Deshalb kann ich mich immer noch gut in sie hineinversetzen“, erzählt sie.
Nach der Lesung stellten sich viele Fragen aus dem Publikum. Wie man so fit bleibe, wollte eine Frau wissen. „Verstellen Sie sich“, antwortete Ingrid Noll lachend. Natürlich habe auch sie mit den „Materialermüdungen des Alters“ zu kämpfen, wie sie es nennt. Dass ihr Geist dennoch so jung geblieben ist, liege daran, dass sie sich gerne mit Menschen unterschiedlicher Generationen umgebe, sich austausche und informiere.
Noll erzählt in Schwetzingen: Ideen kommen sogar im Traum
Wie Ingrid Noll eine Geschichte angeht, wurde ebenfalls gefragt. Sie erklärte, dass sie linear schreibt und sich zunächst immer die Hauptfigur – in der Regel eine Frau – bei ihr meldet. Besonders gut könne sie sich in Menschen einfühlen, die vom Glück nicht begünstigt sind und in etwas hineinschlittern. Mit wirklichen Wahnsinnigen gelinge ihr das nicht. „Ich kenne auch keine Mörder. Zumindest nicht wissentlich“, schmunzelt sie.
Steht die Protagonistin klar und deutlich vor ihr, erfindet sie die anderen Figuren und lässt sie aufeinander los. Schreibblockaden kennt Ingrid Noll nicht: „Irgendwie geht es immer weiter.“ Manchmal kommen ihr sogar im Traum Ideen. Auch wenn das Lesen mittlerweile anstrengend sei, mit dem Schreiben klappt es immer noch hervorragend. Kein Wunder also, dass sie bereits eine neue Idee im Kopf hat.
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