Es war zu erwarten: Der Artikel „Mein Herz weint“ sorgte für Diskussionen. Und einmal mehr gerieten dabei ein paar Realitäten durcheinander. Hauptpunkt in den vielen Anmerkungen, die den Autor des Artikels erreichten, war das vermeintliche Versprechen des Westens, auf eine Erweiterung der Nato gen Osten zu verzichten. Der Deal: die deutsche Wiedervereinigung für einen Verzicht auf eine Nato-Osterweiterung. Immer wieder wurde der Bruch eines Versprechens des Westens als Urgrund für die jetzigen Ereignisse benannt.
Dabei bezieht sich Russlands Präsident Putin und viele andere auf einen Satz des früheren US-Außenministers James Baker, der im Frühjahr 1990 gesagt hat, dass sich die Nato im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands nicht nach Osten ausdehnen solle. Wichtig ist, dass dieser Satz im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Gespräche zur Wiedervereinigung Deutschlands fiel; sich dieser Satz also nur auf die fünf neuen Bundesländer bezog. Von einer Osterweiterung, wie wir sie heute verstehen, war damals keine Rede. Es hätte auch gar kein Sinn gemacht, bestand 1990 doch noch die Sowjetunion und der Warschauer Pakt, das militärische Pendant zur Nato. Die Zwei-plus-Vier-Gespräche kamen im September 1990 zu einem Ende. Dabei einigten sich die Vertragspartner USA, Sowjetunion, England, Frankreich sowie die Bundesrepublik und die DDR auf eine Beschränkung der Nato-Präsenz auf dem Gebiet der dann ehemaligen DDR. Heißt: Es dürfen in den neuen Bundesländern keine Nuklearwaffen und keine fremden Truppen stationiert sein. Alles darüber hinaus Gehende war, wie der frühere Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, immer wieder sagt, kein Thema. Es ahnte ja niemand, dass die Sowjetunion und damit auch der Warschauer Pakt ein Jahr später zerfallen sollten.
Erst der beginnende Zerfall der Sowjetunion ab dem Frühjahr 1991 brachte die Nato-Frage wieder auf den Tisch. Wobei westliche Politiker eher abweisend waren. Niemand in den westlichen Hauptstädten wollte die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten jetzt in der Nato haben. Erst die Unruhen im inneren Russland, den Krisen in Moldau und Georgien und der Krieg in Tschetschenien lösten unter den früheren Warschauer-Pakt-Staaten eine enorme Dynamik gen Nato aus. In vielen Staaten des ehemaligen Ostblocks gewannen Mitte der 1990er Jahre pro-europäische Kräfte Wahlen und diese Kräfte ließen keinen Zweifel daran, dass sie in die Nato wollten. Es war eine Dynamik, die nicht zu stoppen war, und so entschieden sich die Nato-Staaten doch dazu, die Türen aufzumachen – in enger Abstimmung mit Russland. 1997 wurde ein Vertrag mit Russland geschlossen (Nato-Russland-Grundakte), der eine Nato-Erweiterung gen Osten unter der Bedingung, dass keine atomaren Waffen in diesen Ländern stationiert würden, ermöglichte. Und bis mindestens 2004 hatte Putin damit auch kein Problem. Zum Nato-Beitritt der Balten 2004 erklärte er in einer Pressekonferenz im Beisein des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, dass sich die Beziehungen Russlands zur Nato erfreulich entwickelte. Das Sicherheitsbedürfnis Russlands würde mit dieser Erweiterung nicht tangiert. Und er betonte damals sogar, dass jedes Land das Recht habe, seine Form der Sicherheit zu wählen.
Der Ton hat sich geändert. Aber dieser Ton bildet die Realität immer weniger ab. Er bringt tatsächliche Fehler, wie der Entscheid, den Rubel dem freien Handel auszusetzen (es war in den Augen des Autors der Kardinalfehler), sogar zum Verschwinden. Weswegen der Diskurs immer knapp an den Realitäten vorbeiläuft. Die Konsequenz: Über die Jahre erodieren die Fundamente eines gelingenden Gesprächs und damit auch das gegenseitige Verstehen. Heißt im Umkehrschluss, ein paar grundlegende und gemeinsame Fakten müssen als Stützen wieder verbaut werden, damit der Dialog in Gang kommt und wir uns vielleicht wieder etwas besser verstehen lernen.
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