Hirschacker-Grundschule

Von blinden Menschen lernen Schwetzinger Kinder Inklusion

Die Mädchen und Jungen der Hirschacker-Grundschule in Schwetzingen wird diese Begegnung lange im Gedächtnis bleiben - und das ist gut so: Zwei völlig blinde Menschen gewährten den Schülern "Einblicke" in ihren Alltag.

Von 
Stefan Kern
Lesedauer: 
Kürsat Özdemir (v.) und Rauan Mardnli (5. v. r.) üben mit Kindern, die sich mit geschlossenen Augen einen Ball, in dem ein Glöckchen ist, auf Zuruf zuspielen sollen. © Lenhardt

Inklusion ist kein leichtes Thema. Vorbehalte, Berührungsängste und Unkenntnis versperren in Teilen die Wege der Menschen mit und ohne Behinderung zueinander. Dass es auch anders geht, machte eine Aktion des Inklusionsbeirats Schwetzingen mit Raquel Rempp sowie Rauan Mardnli und Kürsat Özdemir, beide blind, in der Hirschacker-Grundschule deutlich. Gemeinsam mit rund 50 Schülern der dritten und vierten Klassen machten sich die beiden auf, die Welt der Blinden zu entdecken. Und das ganz entspannt, in Teilen sogar lustig.

Für die Inklusion gibt es keine einfachen Rezepte. Aber eins, das wahrscheinlich wirklich funktioniert, so viel vorab, konnte man hier beobachten. Kinder, die Mardnli und Özdemir beinahe ein Loch in den Bauch fragten und sie, die unbefangener gar nicht hätten antworten können. So geht Inklusion.

Lesen geht ratzfatz!

Zu anfangs erzählten die beiden von sich. Sie lebt in Frankfurt, studiert Wirtschaftswissenschaften und spielt sowohl in der Bundesliga als auch der Nationalmannschaft Goal-Ball. Auch für Özdemir eine Leidenschaft, dabei wird versucht, ein Klingelball über den Boden ins gegnerische Tor zu rollen. Am Ende durften die Kinder das selbst ausprobieren: Die Ball-Körper-Koordination lediglich über das Gehör klappte nicht schlecht. Özdemir selbst ist Physiotherapeut und macht gerne Witze, die ganz schnell alle Schwere nahm. Beide leiden an einer bis dato unheilbaren Augenkrankheit und haben als Kinder gesehen. Sicher war das Erblinden nicht einfach, aber sie scheinen mit ihren Schicksalen Frieden geschlossen zu haben.

Özdemir und Mardnli vermitteln in der Grundschule in Schwetzingen jedenfalls Lebensfreude pur. Für sie gab es sogar einen Vorteil. Ihre Schwester musste nachts irgendwann immer die Taschenlampe ausmachen und konnte so nicht mehr lesen. „Ich habe unter der Decke im Dunkeln einfach weitergelesen.“ Ihr Vorlesen aus einem Buch mit Brailleschrift (der Blindenschrift) machte dann auch viel Eindruck auf die Kinder. Der Tenor: Mit den Fingern lesen ist cool.

Aber natürlich ist auch die Welt der Blinden heute digital – und es ist eine große Erleichterung. Vor allem die Vorlesefunktion sei ein Segen, die es im Übrigen auch bei dieser Zeitung gibt. Höchst verblüffend ist dabei die Sprachgeschwindigkeit. Sie war so schnell, dass auch der Autor dieser Zeilen kein Wort verstanden hat. Mardnli sagte, dass man mit der Zeit auch schneller lesen könne: „Wir können halt schneller hören.“ Und zwar viel schneller. Es ist wirklich faszinierend, was das Gehirn alles kann, wenn es muss.

Kleidung genau sortieren

Cool fanden die Kinder auch die Art, wie sie Kleidung kaufen. Es gebe Apps, die anhand eines Fotos Farbe und Schnitt detailliert beschreiben. Einfacher ist es, so Mardnli, „wenn meine Schwester oder einfach eine Freundin mitkommt“. Wichtig ist, dass der Kleiderschrank immer genau geordnet sei. „Ich weiß immer, wo welches Kleidungsstück liegt und so geht das Anziehen morgens auch ganz schnell.“ Ordnung helfe generell. Wenn die Zahnbürste immer im gleichen Becher an der gleichen Stelle stehe, gebe es keine Verwechslungen. Spannend war für die Kinder das geführte Gehen mit Schwarzbrillen. Wichtigste Regel, so Özdemir, „der Blinde hält den Führenden, nie umgekehrt“. Und es helfe sehr, wenn der Sehende die Umgebung beschreibt und beispielsweise eine Treppe ankündigt. Beim Einsteigen in Bus und Straßenbahn muss man schon meist fragen, ob es die richtige Linie sei. Etwas, was Özdemir nicht immer macht und sich so immer mal wieder am falschen Ort wiederfindet. Bis dato auf keinen Fall geht das Autofahren. Dafür ist Kochen in der eigenen Küche gar kein Problem. Rezepte gehen über die Vorleseaktion und die Einstellungen des Herdes und Ofens sind markiert. Wenn man blind ist, ist vieles anders, aber es geht sehr vieles und manches ist toll. Goal-Ball, im Dunkeln lesen oder das schnelle und gute Gehör faszinierte hier nicht nur die Kinder.

Zwischen den Schülern und den Blinden entstand eine Nähe, die schön war zu sehen. Der Blick auf die Welt der Blinden war für die Kinder nachvollziehbar und sehr eindrücklich. Nirgends gab es mehr Vorbehalte oder Berührungsängste. Die Mädchen und Jungen haben viel gelernt und, so ist es nicht übertrieben, diese Stunde der Inklusion an der Hirschacker-Grundschule als eine kleine Sternstunde in Sachen Empathie zu beschreiben. Den anderen sehen und verstehen machte die Welt am Ende für alle besser.

Diese Inklusionsstunde veranstalten Rempp und ihre beiden Mitstreiter Mardnli und Özdemir an diesem Montag in der Zeyherschule und im Mai sowohl in der Nordstadt- als auch der Südstadtschule.

Freier Autor Stefan Kern ist ein freier Mitarbeiter der Schwetzinger Zeitung.

Copyright © 2025 Schwetzinger Zeitung

VG WORT Zählmarke