Umfrage

Wie unsere Kommunalpolitiker Beleidigungen und Hass erleben

Sie sind die gewählten Vertreter unserer demokratischen Gesellschaft. Und just von dieser Gesellschaft, für die sie eintreten, werden sie beschimpft, beleidigt und sogar bedroht: Kommunalpolitiker der Region erzählen, wie ihnen der sogenannte Hatespeech begegnet.

Von 
Stefan Kern
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© SZ-Grafik

Region. Der Kern aller Demokratien ist die freie Rede. Ohne den Austausch von Argumenten, Perspektiven und Meinungen kann sich eine komplexe Gesellschaft schlichtweg nicht organisieren. Aber genau dieser Austausch ist gefährdet. Denn der gesellschaftliche Diskurs ist zunehmend hassgetränkt. Vom Gemeinderat bis zum Abgeordneten im Bundestag sind Politiker immer häufiger dem sogenannten Hatespeech ausgesetzt.

Patricia Rebmann, Bürgermeisterin in Eppelheim. © Dorothea Lenhardt

Ganz vorne dabei sind in sämtlichen Untersuchungen die Frauen. Es scheint, dass sich trotz aller Bewegungen in Sachen Gleichberechtigung eine Art patriarchale, misogyne (frauenfeindliche) Tiefenstruktur erhalten hat, die immer noch glaubt, eine gesellschaftliche Gruppe aus dem politischen Diskurs verdrängen zu müssen. Und genau das macht der Bürgermeisterin in Eppelheim, Patricia Rebmann, Sorgen. Nicht nur, aber vor allem Frauen würde eine Unfähigkeit attestiert, die anscheinend zur Beleidigung oder Bedrohung (Englisch eben Hatespeech) geradezu einlädt. Was sie schon alles erlebt hat, will sie nicht im Detail erzählen, und zwar zum Schutz ihrer Familie. Nur so viel: Es sei weit unter der Gürtellinie und in Teilen auch beängstigend gewesen.

Es sind Erlebnisse, die sich häufen. Im aktuellen „GesellschaftsReport BW“ wird die „MOTRA Frühjahrsbefragung 2023“ zitiert, demnach in Baden-Württemberg 33 Prozent aller Politikerinnen von Hatespeech betroffen seien. Bei Bürgermeisterinnen im Ländle steigt die Quote sogar auf 54 Prozent.

Vergewaltigungsfantasien: Anonyme Gemeinderätin berichtet von E-Mail

Im Jahr 2021 ergab eine Umfrage des Spiegels, dass 64 Prozent aller weiblichen Abgeordneten im Bundestag über soziale Medien sexistische Kommentare oder Vergewaltigungsfantasien bekommen hätten. Eine Gemeinderätin, die ihren Namen nicht in der Zeitung sehen will, zeigte dem Autor dieser Zeilen eine E-Mail, in der sie als so hässlich beschrieben wurde, dass man noch Geld bekommen müsste, wenn man sie vergewaltigen solle.

33 % aller Politikerinnen in Baden-Württemberg sind von Hatespeech betroffen.
GesellschaftsReport BW

Zugegeben, in der Recherche zu diesem Text der mit Abstand extremste Fall, aber auch Anfeindungen, die nicht diesen Brutalisierungsgrad erreichen, sind Gift für die Demokratie. Denn als Reaktion folgt nicht selten eine gewisse Selbstbeschränkung.

64 % aller weiblichen Abgeordneten im Bundestag bekamen über soziale Medien sexistische Kommentare oder Vergewaltigungsfantasien.
Umfrage des Spiegels

Schwetzingens OB Pöltl berichtet von Drohung zu körperlicher Gewalt

Schwetzingens Oberbürgermeister Dr. René Pöltl überlegt sich mittlerweile sehr genau, zu was er wie und ob überhaupt etwas sagt. Ihm wurde schon mit dem Kriegsgericht gedroht und auch zu körperlicher Gewalt sei es beinahe schon gekommen. Der Diskurs ist in seinen Augen sehr angespannt. „Viel stärker als noch vor zehn Jahren.“ Und zu zwei mächtigen Treibern – eine Einschätzung, die dieser Zeitung immer wieder begegnet sind – gehören die sozialen Medien und die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Sie hätten sich massiv enthemmend ausgewirkt, was am Ende die Meinungsvielfalt verringere. Denn nicht wenige der Betroffenen zögen sich ganz oder teilweise zurück und würden mindestens vorsichtig mit Meinungsäußerungen. Ein Effekt, der in der digitalen Welt mustergültig zu beobachten ist und wieder vor allem Frauen betrifft.

Dr. René Pöltl, Oberbürgermeister von Schwetzingen. © Stadt/TOBIAS SCHWERDT

Männer werden vor allem thematisch angegriffen, so der „GesellschaftsReport BW“, Frauen zusätzlich noch geschlechterspezifisch. Es wird ihnen die Kompetenz abgesprochen, sich thematisch überhaupt verorten zu können. Anders ausgedrückt: Es herrscht Arroganz und Hass auf Frauen. Und damit wird die Axt an das Fundament der Demokratie gelegt. Denn sie ist ganz grundsätzlich darauf angewiesen, dass sich alle gesellschaftlichen Gruppen einbringen. Nicht weil es nett, sondern weil es überlebensnotwendig ist.

Alexandra Scalia, Grünen-Gemeinderätin in Ketsch. © SCHOLL

Hirnforscher Wolf Singer: Pluralität für die demokratische Resilienz 

Der Hirnforscher Wolf Singer betonte, dass die Pluralität für die demokratische Resilienz unverzichtbar sei. Nur komplexe Systeme mit nicht linearer Dynamik seien fähig, sich selbst zu organisieren und zu stabilisieren. Dazu brauche es Pluralität und die enge horizontale Vernetzung der Akteure. Stark hierarchische, totalitäre Systeme seien dagegen extrem anfällig. Sie beruhten auf der Illusion, es gäbe allwissende Dirigenten. Damit verzichteten sie auf die Synergien verteilter Kompetenzen und entbehrten deshalb jedweder Widerstandskraft gegenüber Unvorhergesehenem. Nicht von ungefähr habe die Evolution extrem komplexe Systeme hervorgebracht, die auf Selbstorganisation sowie Dezentralität vertrauten und keinen Dirigenten bedürfen, siehe unser Gehirn. Mit Dirigenten gäbe es kein funktionierendes Gehirn, genau wie es unterm Strich mit Dirigenten keine nachhaltig funktionierende Gemeinschaft gibt. Und die Stabilität dieses Funktionierens steigt mit der Zahl der Menschen, die sich einbringen. Heißt im Umkehrschluss, wenn sich Menschen wegen Beleidigungen und Bedrohungen zurückziehen, sinkt diese Funktionsstabilität.

Carmen Kurz-Ketterer, FDP-Gemeinderätin in Oftersheim. © Rudeloff

Und genau das befürchten viele Gemeinderätinnen zunehmend. Alexandra Scalia, Grünen-Gemeinderätin in Ketsch, sieht den Gemeinsinn in Gefahr. Sie persönlich sei bis dato noch nicht in diesen Hassstrudel geraten. Aber sie erzählt kurz von ihrer Co-Parteivorsitzenden Ricarda Lang. Für Scalia ist das, was Lang abbekomme, „ganz klar menschenverachtend“. „Mich macht das einfach sprachlos und unendlich traurig.“ Auch Carmen Kurz-Ketterer, Gemeinderätin für die FDP in Oftersheim, zeigt sich von dem ausufernden Hass erschüttert. Der Gedanke von der Schwarmintelligenz ist für sie denn auch mehr Wunsch als Sein. Viel eher treffe zu, was der französische Mediziner und Psychologe Gustave Le Bons in seinem Buch „Psychologie der Massen“ (erschienen 1895) postulierte: Eine Masse denke nicht, sie sei vor allem Impuls gesteuert und werde schnell von niederen Instinkten geleitet. Die sozialen Netzwerke seien da eher asoziale Netzwerke und am Ende klar gegen die Interessen der Menschen gerichtet.

Internet sorgt dafür, dass viele Bürger „ihre gute Kinderstube vergessen“

Auch Dr. Susanne Hierschbiel, Grünen-Gemeinderätin in Schwetzingen, teilt diese Einschätzung. Das Netz, seine Reichweite, seine Schnelligkeit und seine Anonymität setze hier in Teilen eine Spirale abwärts in Gang, bei der viele Bürger „ihre gute Kinderstube vergessen. Das ist nicht gut für uns und nicht gut für unsere Demokratie.“ Denn Demokratie lebe auch vom öffentlichen Denken und Lernen. Aber genau das verhindere der stets mögliche Hatespeech-Strudel, „genauer die Angst davor“.

Dr. Susanne Hierschbiel, Gemeinderätin für die Grünen in Schwetzingen. © Hardung

Die Grüne-Gemeinderätin aus Plankstadt, Viviane Reize, setzte denn auch klar auf das Analoge. Von Angesicht zu Angesicht, davon ist sie überzeugt, würden sich die meisten Menschen wieder an ihre gute Kinderstube erinnern. Und genau das wäre wichtig. Demokratie ist nicht selbstverständlich. Der Hirnforscher Singer sagt, dass die Menschen verstehen müssten, dass sie Knoten in einem hochkomplexen Netzwerk seien und dessen Stabilität davon abhänge, „dass sich alle anständig verhalten“. In einer Demokratie kommt es am Ende immer auf alle an, so abstrakt dies auch sein mag.

Internet ist „ein integraler Bestandteil der Meinungsbildung“

Trotzdem will niemand das Netz abschaffen. Im „Gesellschaftsreport BW“ steht, dass das Netz „ein integraler Bestandteil der Meinungsbildung und damit auch ein wirkmächtiger demokratischer Diskursraum ist“. Aber zum Tragen komme dieser Diskursraum nur, so Rebmann und Kurz-Ketterer, wenn Respekt und Anständigkeit seine Fundamente seien. Natürlich heißt das nicht, dass nicht auch mal heftig gestritten werden darf. Für Alexandra Scalia ist der Streit die Essenz der Demokratie. „Nur wo gestritten wird, ist Demokratie.“ Aber dieser Streit braucht Regeln. Und die wichtigste ist: immer oberhalb der Gürtellinie.

Viviane Reize, Grüne-Gemeinderätin aus Plankstadt. © Grössl

Wenn der politische Gegner zum Feind wird, wenn seine Position als in Gänze illegitim betrachtet wird und das Ziel nicht die Auseinandersetzung, sondern dass Verdrängen, vielleicht sogar die Vernichtung ist, endet jeder politische Diskurs und damit die Demokratie. Es ist der Schierlingsbecher der Demokratie. Vor 2423 Jahren – im Jahr 399 vor Christus – tötete dieser Giftbecher den griechischen Philosophen Sokrates. Hatespeech hat eine ganz ähnliche Wirkung, nicht nur für den einzelnen Betroffenen, sondern für die ganze Gemeinschaft. Es wäre fatal! Wie sagte es der frühere britische Premierminister Winston Churchill: „Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen“. Womit kaum etwas wichtiger ist, als eben für genau dieses politische System geradezustehen, sei es als Bürger und Wähler, als ehrenamtlicher Kommunalpolitiker oder als Berufspolitiker.

Freier Autor Stefan Kern ist ein freier Mitarbeiter der Schwetzinger Zeitung.

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