SWR Festspiele

Zwischen Genuss und Gefahr: Eine Sprechstunde zur Verführung

Der Philosoph Matthias Warkus, der SWR-Kulturmoderator Jörg Lengersdorf und die Pianistin Sophie Pacini im Dialog über das Festivalmotto.

Von 
Jakob Roth
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Musikalische Sprechstunde über das Thema "Verführung" (v.l.): Sophie Pacini, Matthias Warkus und Jörg Lengersdorf. © SWR

Schwetzingen. Die Uhrzeiger stehen bereits auf halb zehn, als im Mozartsaal des Schwetzinger Schlosses die Lichter etwas gedimmt werden, damit das Publikum zur Ruhe kommt. Die anstehende „Musikalische Sprechstunde“ mit dem Namen „Ein Thema, ein Klavier, drei Menschen“ – eine Mischung aus Gespräch, Philosophie und Konzert – beginnt bewusst spät, denn das Thema ist ein Nachtwesen: Es geht um Verführung.

Gleich stellt sich die Frage: Was ist das eigentlich – Verführung? Ist sie ein dunkles Spiel, ein Mittel der Manipulation – oder schlicht ein anderes Wort für Schönheit mit Absicht? Und vor allem: Wann hört sie auf und wird zur gewaltvollen, bedrängenden Überwältigung?

Diese Fragen stellen sich der Philosoph Matthias Warkus, der SWR-Kulturmoderator Jörg Lengersdorf und die Pianistin Sophie Pacini – im Dialog, auf der Bühne, zwischen Worten und Tönen. Es wird ein Abend, der das Denken herausfordert, ohne zu belehren, und der musikalisch so klug gebaut ist, dass man fast vergisst, wie viel man gerade lernt.

Liszts „ Réminiscences de Don Juan“ als Paraphrase auf Mozarts Oper „Don Giovanni“

Schon zu Beginn spielt Sophie Pacini eine Melodie, die jeder kennt – auch wenn nicht jeder weiß, woher: das Adagio aus Franz Liszts „Réminiscences de Don Juan“. Das ist eine Paraphrase auf Mozarts Oper „Don Giovanni“. Das Publikum hört da eine zärtliche, fast einschmeichelnde Melodie. Und doch geht es hier nicht um einen Helden, sondern um einen skrupellosen Frauenverführer. Warum also klingt das Böse so schön? Warum wird der amoralische Don Giovanni musikalisch mit Samthandschuhen angefasst?

„Gerade das macht den Reiz aus“, sagt Pacini. Wäre die Melodie böse, dunkel und rau, würde sie uns nicht verführen – sie würde nur warnen. Und so wird das musikalische Thema selbst zum perfekten Bild der Verführung: erst lieblich, dann immer komplexer und hektischer. Ganz nach dem Motto: Hinter der Anmut lauert der Abgrund.

Musik kann zart verführen oder mit orchestraler Wucht niederwalzen

Matthias Warkus, Philosoph und Kolumnist, präzisiert: Verführung setze nicht nur einen Verführer, sondern auch einen Mangel an Willenskraft und Pflichtbewusstsein voraus. Wer verführt wird, weiß oft, dass er widerstehen sollte – und tut die Schandtat dann trotzdem. Verführung ist kein einfaches „Ja“ oder „Nein“ – sie ist ein Spektrum. Und auf diesem Spektrum gibt es Übergänge und teils fließende Grenzen zur Überwältigung. Musik, so erfahren wir aus dem Gespräch zwischen Lengersdorf und Warkus, kann beide Extreme bedienen: Sie kann zart verführen oder mit orchestraler Wucht niederwalzen.

Sophie Pacini zeigt das eindrucksvoll anhand von Liszts h-Moll-Sonate, in der aus einem anfänglichen „Hammerschlag-Thema“ eine zärtliche Melodie erwächst – nur um später in monumentaler Wucht zurückzukehren. „Gänsehaut entsteht dann, wenn wir in der Musik getäuscht werden“, erklärt Lengersdorf. So etwa, wenn wir uns sicher wähnen in einem ruhigen Klangbett – und es dann plötzlich von hymnischer Kraft abgelöst wird. Dieses Wechselspiel aus Erwartung und Überraschung ist Teil jeder gelungenen Verführung – in der Musik, aber auch im Leben.

Richard Wagners „Überwältigungsästhetik“ und die süße Penetranz von Tonwiederholungen

Matthias Warkus spricht beispielhaft von Richard Wagners „Überwältigungsästhetik“, von Inszenierungen, die keine Wahl lassen – deren Größe keinen Raum mehr bietet für Distanz. Manche sprechen hier nicht mehr von Verführung, sondern von Vereinnahmung. Und auch das hat seinen Reiz – wenn man sich bewusst darauf einlässt.

Ein faszinierender Moment entsteht, als Pacini während des Spiels kommentiert. Sie spielt, erklärt, deutet – fast wie eine musikalische Philosophin. Besonders deutlich wird das, als sie erneut auf das Hammermotiv eingeht. Es sei durch seine eindringlichen Tonwiederholungen wie ein Kind, das mit süßer Penetranz um etwas bittet. Eine Analogie, die sich unmittelbar einprägt.

Der Abend nimmt zunehmend Fahrt auf. Warkus spricht über Populismus und die Faszination des Bösen. Er spricht über Menschen, die sich verführen lassen wollen – durch einfache Antworten, klare Feindbilder und das Versprechen von Macht. Der Sturm aufs US-Kapitol 2021 wird hier zur Fallstudie: Da wütet eine aufgehetzte Masse, verführt vom Gefühl, einmal „richtig die Sau rauslassen zu dürfen“.

Robert Schumanns „Kinderszenen“ als Beispiel für Vernunft

Doch es gibt auch eine andere Seite: die Vernunft. Pacini schlägt einen musikalischen Bogen zu Robert Schumanns „Kinderszenen“ und dem darin enthaltenen Werk „Der Dichter spricht“. Ein Stück voller fragender Harmonik, ein Zwiegespräch mit dem eigenen Inneren. Hier zeigt Schumann, wie wir uns selbst beruhigen, wie wir uns versichern, dass wir uns auf unseren Verstand verlassen können. Denn unser Verstand bewahrt uns ja vor Dummheiten.„Wir sind stolz, wenn wir der Quengelware widerstehen“, sagt Warkus. Der Verstand wird zur Instanz der Kontrolle. Er kann das Spiel der Verführung stoppen – oder es bewusst genießen.

Die Veranstaltung endet mit Beethovens Variationen über eine Arie aus Giovanni Paisiellos „La molinara“ – ein zärtliches Nachspiel über Sehnsucht und Jugend. Die Musik paraphrasiert ein musikalisches Bild für das bittersüße Suhlen in Emotionen, für den Wunsch, noch einmal zu fühlen, was war. Auch das ist Verführung: sich freiwillig dem Schmerz des Schönen und des Vergangenen hinzugeben.

In einer Zeit, in der vieles erklärt, kategorisiert und rationalisiert wird, erlaubt dieser Abend etwas Seltenes: ein lustvolles Umkreisen des Uneindeutigen. Verführung wird hier nicht moralisiert, sondern verstanden – als menschliches Grundthema, immer zwischen Genuss und Gefahr. Und während der Applaus langsam ausklingt, bleibt ein Gedanke hängen: Vielleicht ist es gar nicht schlimm, sich verführen zu lassen. Solange man weiß, dass man es tut.

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