Frankenthal. Wenn Eltern ihre Kinder verletzen oder zulassen, dass andere ihnen Gewalt antun, müssen sie sich juristisch verantworten. Meist lautet die Anklage dann „Misshandlung von Schutzbefohlenen“. In der Regel werden in solchen Fällen Vertreter des Jugendamts als Zeugen angehört, die das Sorgerecht für die Kinder haben, ihr Amtsvormund sind. Auch Jochen Götzmann ist ein solcher wichtiger Zeuge. Aber er ist noch mehr, und das ist ungewöhnlich: Götzmann, der beim Speyerer Jugendamt arbeitet, tritt als Nebenkläger in einem Verfahren auf, das am Mittwoch am Landgericht in Frankenthal begonnen hat. Um für den kleinen Milan (Name von der Redaktion geändert) einzustehen, der mit sechs Monaten fast totgeprügelt wurde.
Angeklagt sind seine Eltern, Demetrius H. (38) und Tanja H. (32). Staatsanwalt Volker Sucharski beschreibt am Mittwoch vor Gericht, wie der Mann sein Kind im Juli 2020 – der Junge war damals sechs Monate alt – in der Wohnung der Familie in Speyer in den Bauch schlug, und wie der Kopf des Babys gegen einen festen Gegenstand prallte. Er zählt die vielen Verletzungen des Kindes auf, an Leber und Niere, spricht von Teilen des Darms, die entfernt werden mussten und vom Schädel-Hirn-Trauma des kleinen Jungen, der immer lauter geschrien habe, sich wieder und wieder übergab, während die Entzündung in seinem Bauchraum voranschritt.
Kind musste beatmet werden
Laut Anklage war Tanja H. nicht zu Hause, als ihr Mann auf den gemeinsamen Sohn einschlug. Als sie heimgekommen sei, habe sie aber nicht auf Milans Notlage reagiert, sondern versucht, ihn zu stillen. Auch als der Kleine blau anlief, habe sie keinen Notarzt verständigt, sondern zunächst eine befreundete Kinderkrankenschwester angerufen. Erst danach wählte sie laut Staatsanwaltschaft den Notruf. „Als die Rettungssanitäter eintrafen, war das Kind bereits blau marmoriert und musste beatmet werden“, so der Staatsanwalt, der Anklage wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen erhoben hat. Im Falle einer Verurteilung droht Beiden eine Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr.
Schwester im Kinderheim
Mehrere Operationen retteten im Sommer 2020 Milans Leben, aber es war nicht sein erster Aufenthalt in einer Kinderklinik. „Der Kleine hatte schon mit sechs Wochen einen Oberschenkelhalsbruch“, berichtet Götzmann am Rande der Verhandlung. „Mit sechs Wochen.“
Es ist das erste Mal, dass sich Götzmann für einen seiner Schützlinge auch juristisch engagiert. „Das hatten wir bei uns in Speyer noch nie“, sagt er. Aber er wolle sicher stellen, dass jemand für Milan einsteht, dass er Schadensersatzsprüche geltend machen kann – für das, was ihm angetan wurde.
Bei einem Gespräch mit der Gesundheitskasse sei er auf die Idee gekommen. Sein Rechtsbeistand: Thomas Franz aus Ketsch, der zu den versiertesten und bekanntesten Opfer-Anwälten der Region gehört und 18 Jahre den Weißen Ring im Rhein-Neckar-Kreis geleitet hat. „Ich wünsche mir, dass Milans Verletzungen möglichst folgenlos ausheilen – die körperlichen und die seelischen“, sagt Franz nach einem kurzen ersten Prozesstag, der bereits nach der Anklageverlesung endet.
Spätschäden bislang nur schwer abzuschätzen
Aktuell gehe es dem Jungen den Umständen entsprechend gut. „Er geht in den Kindergarten, spielt gern Fußball und liebt alle möglichen Fahrgeräte“, sagt Götzmann und lächelt. Der heute Dreijährige esse inzwischen selbstständig, nachdem er lange über eine Ernährungssonde versorgt werden musste. „Darüber bekommt er nach wie vor seine Medikamente“, so der Mitarbeiter des Jugendamts. Welche körperlichen und kognitiven Spätschäden unter Umständen zurückgeblieben sind, lässt sich Medizinern zufolge bislang nur schwer abschätzen.
Betreut wird Milan laut Götzmann von einer Pflegemutter, die sich bereits während seines Klinikaufenthalts um ihn gekümmert habe. Kontakt zu seinen leiblichen Eltern gebe es nicht. Aber zu seiner Schwester. Das sechsjährige Mädchen lebe inzwischen in einem Kinderheim. „Alle zwei Monate sehen sich die beiden“, sagt Götzmann. Leicht sei das nicht, vor allem nicht für das Mädchen, das versuche zu begreifen, warum es nicht gemeinsam mit ihrem Bruder aufwachse. „Und das sich natürlich fragt, warum er eine andere Frau ,Mama’ nennt.“ Auch für das Mädchen sucht die Behörde eine Pflegefamilie, um ihr ein Stück emotionale Heimat zurückzugeben. Ein Zuhause, das beide Kinder spätestens im Juli 2020 verloren haben.
Ihre Eltern haben sich bislang nicht zu den Vorwürfen geäußert, nach Informationen dieser Redaktion streiten beide ab, etwas mit den Verletzungen zu tun gehabt zu haben. Ob sie am zweiten Prozesstag Angaben machen, das lassen die Verteidiger des Mannes – Inga Berg und Alexander Kiefer – am Mittwoch offen. Alexander Kiefer vertrat bereits im vergangenen Jahr eine Mutter aus Ludwigshafen, der vorgeworfen worden war, ihren wenige Wochen alten Sohn schwer misshandelt zu haben. Vor dem Landgericht in Landau wurde die Frau im Februar wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Kiefer und die Staatsanwaltschaft legten Revision gegen das Urteil ein.
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