International - Nach der Machtübernahme der Taliban folgt auf den gefeierten Neuanfang in den transatlantischen Beziehungen bittere Ernüchterung

Afghanistan katapultiert die G7 zurück in die Krise

Von 
Can Merey
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Washington/Berlin/Brüssel. Eine Demonstration der Geschlossenheit und der Stärke sollte der G7-Gipfel in Cornwall sein. Die Botschaft des Spitzentreffens vor der südenglischen Urlaubskulisse: Der Westen ist zurück. Für den neuen US-Präsidenten Joe Biden – der alles anders machen wollte als sein Vorgänger Donald Trump – war der Gipfel der großen westlichen Industriestaaten im Juni der erste große Auftritt auf der Weltbühne.

Gut zehn Wochen später sitzen die Staats- und Regierungschefs der G7 am Dienstag bei einem Online-Sondergipfel zusammen und aller Enthusiasmus ist verflogen. Der Westen ist in Afghanistan krachend gescheitert. Das Vertrauen der Verbündeten in die USA und in Biden ist erschüttert. Der groß gefeierte Neuanfang der transatlantischen Beziehungen ist schon wieder am Ende.

Abhängigkeit von den USA

Die G7 ist zurück im Krisenmodus. Die Nato, die den gescheiterten Einsatz formell geleitet hat, auch wenn letztlich immer die Amerikaner das Zepter führten, hat ein Debakel erlebt. Und die Europäer machen beim Abzug aus Afghanistan, aber auch bei den laufenden Evakuierungsbemühungen in Kabul ein weiteres Mal die demütigende Erfahrung, dass sie komplett von den Amerikanern abhängig sind. Der US-Präsident gibt zwar zu, dass seine Regierung die Geschwindigkeit des Taliban-Siegeszugs unterschätzt habe und nennt die Szenen am Flughafen in Kabul „herzzerreißend“. Er betont aber: „Ich habe nicht gesehen, dass unsere Glaubwürdigkeit von unseren Verbündeten in der ganzen Welt in Frage gestellt wird.“

Biden spricht von jenen Verbündeten, denen er seit seinem Amtsantritt im Januar bei jeder Gelegenheit versichert, dass die USA wieder auf Zusammenarbeit setzen – statt auf Trumps Alleingänge. Er behauptet sogar, die Koalitionspartner in Afghanistan hätten seinen Abzugsplänen zugestimmt. Tatsächlich konnten sie seinen einseitigen Beschluss nur noch abnicken.

Der frühere britische Minister Rory Stewart schrieb auf Twitter: „Unser demütigender Verrat an Afghanistan signalisiert das Ende der zentralen Ideen, die die westliche Außenpolitik seit dem Ende des Kalten Krieges prägten. Das von den USA geführte Bündnis ist zerbrochen“. Auch in Berlin ist der Unmut über die Amerikaner deutlich zu spüren. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen, spricht von einem „moralischen und politischen Scheitern.“ Der CDU-Politiker hofft, dass die USA bei der Evakuierung die neuen Risse im westlichen Bündnis zumindest nicht weiter vertiefen.

Aus Nato-Kreisen hieß es zuletzt, ein Aufschub um einige Tage sei vielleicht möglich, vermutlich aber nicht um einige Wochen. Die Bundesregierung arbeitet deswegen schon an einem Plan B. Außenminister Heiko Maas sagte am Montag, man wolle mit den USA, der Türkei, aber auch mit den Taliban über eine zivile Nutzung des Flughafens über den 31. August hinaus verhandeln.

Für die Partner der USA wird sich spätestens nach dem Ende der Evakuierungsaktion die Frage stellen, welche Lehren sie aus den jüngsten Ereignissen ziehen müssen. Das Thema strategische Autonomie werde wieder auf den Tisch kommen, und man werde diskutieren müssen, was das bedeute, prophezeite der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell bereits am vergangenen Donnerstag. Diese Krise werde auch eine Chance sein, die Europäische Union als eigenständigen politischen Akteur weiterzuentwickeln. 

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