Berlin. Es gibt eine Entscheidung in der politischen Biografie von Cem Özdemir (58), die sein Leben „in ein Davor und ein Danach“ unterteilt. Im Podcast „Meine schwerste Entscheidung“ der Funke Mediengruppe überlegt der Landwirtschaftsminister und Spitzenkandidat der Grünen für das Amt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten nicht lange, welches die schwerste politische Entscheidung seines Lebens war: sein Einsatz für die Armenien-Resolution des Deutschen Bundestages 2016, in der das Massaker an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich als Völkermord bezeichnet wird.
Denn mit der Resolution begann die Bedrohung. Für Özdemir und seine Familie. Damals waren seine beiden Kinder im Kita- und Grundschulalter. Ihm sei klar gewesen, sagt er im Podcast, dass diese Resolution „einschneidende Konsequenzen“ haben werde. „Bis eben zu der Frage, dass ich da lange Zeit eben bestimmte Teile der Gegend in Kreuzberg, in der ich wohne, meiden musste, eben nicht alleine einkaufen gehen konnte, im Taxi bedrängt wurde von Taxifahrern, die türkische Nationalisten sind.“
Er könne für sich selbst gut Verantwortung übernehmen. „Aber die Verantwortung für andere zu übernehmen, das ist schon sehr schwer, weil man eben auch nicht weiß, was denen blühen kann. Und es gab schon sehr unangenehme Momente, dass meine Kinder übel behandelt wurden“, berichtete der ehemalige Grünen-Vorsitzende. Passanten hätten „vor meinen Kindern einfach auf den Boden gespuckt, vor meiner damaligen Frau“.
Türkische Nationalisten hätten „Filme ausgestrahlt, in denen auch meine damalige Frau, meine Kinder erwähnt wurden“, so Özdemir. Freunde in der Türkei hätten ihm geraten: „Das solltest du verdammt ernst nehmen. Da geht es jetzt um dich.“
Auf Sicherheitsvorkehrungen sei er zunächst nicht hingewiesen worden, kritisiert Özdemir im Podcast. Die Sicherheitsbehörden hätten sich erst nach einer Intervention des damaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) bei ihm gemeldet. Manchmal denke er, „wenn die Bösen wüssten, wie die Guten bei uns arbeiten, besser so, dass sie vielleicht nicht alles wissen“.
Sarkastisch fügte der Grünen-Politiker hinzu, er habe „die Morddrohungen, die ich bekam, auf Deutsch übersetzt, weil es anscheinend irgendwie bei den Sicherheitsbehörden wohl heißt, wir nehmen Morddrohungen nur in deutscher Sprache entgegen“.
Nachbarn stellten sich vor Cem Özdemir
In den Tagen nach der Resolution hätten sich Fremde in seiner Straße bei türkischstämmigen Nachbarn erkundigt, „wann ich die Wohnung betrete, wann ich sie verlasse, wo genau das Fenster ist, welchen Weg ich nehme, wenn ich mit dem Fahrrad ins Büro fahre“.
Der Sicherheitsapparat habe damals praktisch aus seiner Nachbarschaft bestanden. Nachbarn hätten Personen, die nach Özdemir fragten, „irgendwann mal am Schlafittchen gepackt und gesagt, verschwindet hier“.
Den Podcast „Meine schwerste Entscheidung“ können Sie auf allen gängigen Streaming-Plattformen hören. Neue Folgen erscheinen jeden zweiten Donnerstag.
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