Präsidentenwahl

Der „türkische Gandhi“ rechnet sich Chancen aus

Kemal Kilicdaroglu will Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan bei der Präsidentenwahl in der Türkei entmachten - und könnte an Rivalen aus den eigenen Reihen scheitern

Von 
Gerd Höhler
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„Kemal kommt“: Der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu könnte dem türkischen Präsidenten bei der kommenden Wahl gefährlich werden. © Mehmet Ali Ozcan/dpa

Ankara. Ein freundlich lächelnder alter Mann sitzt am Küchentisch. Er hat schütteres Haar und trägt eine altmodische runde Goldrandbrille. Im Hintergrund sind Küchenmöbel und ein Gasherd aus dem vorigen Jahrhundert zu erkennen. Die Szene wirkt wie ein Bild aus längst vergangenen Tagen. Aber sie könnte die Zukunft der Türkei zeigen. Denn der Mann, der sich in einem Twitter-Video aus seiner Wohnküche meldet, ist Kemal Kilicdaroglu. Der 74-Jährige tritt bei der Präsidentenwahl am 14. Mai als gemeinsamer Kandidat von sechs Oppositionsparteien gegen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan an.

Seit 13 Jahren führt Kilicdaroglu die größte türkische Oppositionspartei CHP. Er will die Türkei erneuern, die Trennung von Staat und Religion wiederherstellen, die unter Erdogan geschwächten Institutionen und die Gewaltenteilung stärken, die angeschlagene Wirtschaft flottmachen. Er werde „die Türkei wieder aufs Gleis setzen“ und „den Menschen die Freude am Leben zurückgeben“, verspricht Kilicdaroglu im Video. Und er gibt sich zuversichtlich: „Gemeinsam werden wir gewinnen, liebe Mitbürger!“

Danach sah es zunächst auch aus, nachdem sechs Oppositionsparteien Kilicdaroglu Anfang März als gemeinsamen Bewerber nominierten. Mitte März kam Kilicdaroglu in einer Umfrage des Instituts ORC auf 53,1 Prozent. Erdogan lag in der Erhebung nur bei 42,3 Prozent. Aber gelaufen ist das Rennen noch nicht.

Seit zwei Jahrzehnten bestimmt Erdogan die Geschicke der Türkei, zunächst als Premierminister und seit 2014 als Präsident – mit einer Machtfülle, wie sie kein anderer westlicher Staatschef besitzt. Noch nie hat der 69-Jährige eine Wahl verloren. Aber jetzt ist der „Sultan“, wie ihn Kritiker wegen seines zunehmend selbstherrlichen Machtgebarens spöttisch nennen, in der Defensive. Die Inflation treibt immer mehr türkische Mittelstandsfamilien in die Armut. Und die Armen stürzen noch tiefer ins Elend. Auch mit seinem chaotischen Krisenmanagement nach der Erdbebenkatastrophe vom Februar hat sich der Staatschef in den Augen vieler blamiert.

Kilicdaroglu hofft, von der Schwäche Erdogans zu profitieren. „Ich bin Kemal. Ich komme“, steht auf seinen Wahlplakaten – eine Anspielung auf Mustafa Kemal, den Staatsgründer und späteren Atatürk, auf den auch die sozialdemokratische CHP zurückgeht. Kilicdaroglu wuchs im osttürkischen Tunceli als eines von sieben Kindern einer Beamtenfamilie auf. Er studierte Wirtschaft und Verwaltungswissenschaften, bevor er in Ankara Beamter im Finanzministerium und später Generaldirektor der staatlichen Sozialversicherungsanstalt wurde. Erst mit 54 Jahren ging er in die Politik und wurde 2002 für die CHP ins Parlament gewählt.

Manche sehen in Kilicdaroglu einen „türkischen Gandhi“, wegen einer entfernten äußerlichen Ähnlichkeit mit dem Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, aber auch wegen der Besonnenheit und der Sanftmütigkeit, die er ausstrahlt. „Er ist nett und sehr ruhig, ein bisschen zu ruhig“, sagt Kilicdaroglus Frau Selvi über ihren Mann. Er werde nie laut, „man kann nicht mal einen richtigen Streit mit ihm haben“. Das rege sie manchmal auf, sagt die Gattin. Aber wenn nötig, findet ihr Mann deutliche Worte. Erdogan bezeichnet er ungeniert als „Diktator“.

Der Kampf gegen die Korruption, dem er sich schon als Beamter verschrieben hatte, zieht sich wie ein roter Faden durch seine politische Karriere. Kilicdaroglu, der 1994 mit dem Ehrentitel „Beamter des Jahres“ ausgezeichnet wurde, gilt als ehrlich, zuverlässig und integer – Eigenschaften, die in der türkischen Politik nicht häufig anzutreffen sind.

Auf der anderen Seite fehlen ihm das Charisma und die demagogischen Talente, mit denen Erdogan auftrumpft. Er gehört der religiösen Minderheit der Aleviten an, die wegen ihrer liberalen Auslegung des Islam von strenggläubigen Sunniten wie Erdogan verachtet werden.

Für viele Menschen in der Türkei verkörpert Erdogan trotz Wirtschaftskrise, Korruptionsvorwürfen und Erdbebenchaos immer noch den Führer einer starken, stolzen Türkei. Überdies kontrolliert der Präsident die Verwaltung, den Sicherheitsapparat und die Justiz. Über 90 Prozent der türkischen Medien sind dem Staatschef ergeben, sie gehören Erdogan-nahen Unternehmern – nicht zu unterschätzende Vorteile im Wahlkampf.

Und nun kommt Erdogan auch noch ein Oppositionspolitiker zur Hilfe: Der Populist Muharrem Ince, ein abtrünniger CHP-Politiker, der schon 2018 erfolglos gegen Erdogan antrat, kandidiert wieder. Etwas Besseres konnte Erdogan nicht passieren. Ince hat zwar keine Aussicht zu gewinnen. Er könnte aber Kilicdaroglu entscheidende Stimmen abnehmen. In einer Umfrage des Instituts Saros liegt Kilicdaroglu mit 45,5 Prozent nur noch ganz knapp vor Erdogan mit 44,3 Prozent – der Wahlausgang ist wieder völlig offen.

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