Ankara/Istanbul. Die Opferzahlen im Erdbebengebiet steigen weiter, einige Experten schätzen die Zahl der Getöteten inzwischen auf 50000 und mehr. Gleichzeitig fehlt es den Überlebenden an allem: Sie frieren, hungern und leiden Durst. Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan, der sich Mitte Mai Wahlen stellen muss, gerät wegen der vielerorts ausbleibenden Hilfe immer stärker unter Druck.
Bei einem Besuch im Katastrophengebiet räumte Erdogan „anfängliche Schwierigkeiten“ bei den Rettungsarbeiten ein. Inzwischen sei aber „alles unter Kontrolle“. Das ist auch der Eindruck, den die regierungsnahen Medien vermitteln. Als eine Überlebende in der Stadt Kahramanmaras vor einer Kamera des Staatsfernsehens über ausbleibende Hilfe zu klagen begann, wandte sich die Reporterin abrupt ab.
Erdogan versuchte bei seinem Besuch, direktem Kontakt mit den Menschen aus dem Weg zu gehen. Wenn er unvermeidlich wurde, suchte der Präsident nach Ausflüchten. Katastrophen passierten nun mal, das sei „der Plan der Vorsehung“, erklärte er einer Frau. Die gleichen Worte hatte er vor einigen Monaten bei einem Grubenunglück mit 41 Toten gebraucht. Damals gab es Kritik an schlampigen Sicherheitsvorkehrungen. Diesmal geht es um Pfusch am Bau.
Erdogan kommt in Erklärungsnot. Seit zwei Jahrzehnten kultivierte er das Image des fürsorgenden Landesvaters. Sein zunehmend autokratisches Gebaren sahen ihm viele Türkinnen und Türken nach. Erdogan verkörperte den „starken Führer“, nach dem sich viele in einer autoritäts- und staatsgläubigen Gesellschaft sehnen. Aber nun versagt „Vater Staat“. Das beginnt für Erdogan zum Problem zu werden. Mitte Mai sollen Parlaments- und Präsidentenwahlen stattfinden. Schon vor dem Beben schwächelte Erdogan in den Umfragen. Welche Folgen die Katastrophe für die Wahl hat, ist noch gar nicht abzusehen.
Webseiten geschlossen
Was die Türkei jetzt erlebt, erscheint wie eine bittere Ironie der Geschichte: Das krasse Staatsversagen nach dem schweren Erdbeben in der Nordwesttürkei vom August 1999 fegte die damalige Regierung des greisen Premiers Bülent Ecevit aus dem Amt. Bei den Wahlen von 2001 schaffte keine der an der Regierungskoalition beteiligten Parteien die Rückkehr ins Parlament. Die Katastrophe bescherte Erdogan und seiner islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die absolute Mehrheit im neuen Parlament. Jetzt kündigt sich ein neues politisches Beben in der Türkei an. Es könnte Erdogans Ende bedeuten.
Unterdessen sind im Zusammenhang mit Beiträgen in sozialen Medien nach dem schweren Erdbeben 37 Nutzer festgenommen worden. Sie hätten Beiträge geteilt, „mit dem Ziel, Angst und Panik unter der Bevölkerung zu verbreiten“, teilte die Polizei am Freitag mit. Um welche Beiträge es sich genau handelte, war unklar. Zehn der Festgenommenen seien verhaftet worden. Es seien zudem mehrere Webseiten geschlossen worden, weil die Betreiber die Gutmütigkeit der Bürger ausnutzen und sich etwa Spendengelder erschwindeln wollten, so die Polizei.
Am Mittwoch war Twitter in der Türkei zwischenzeitlich gesperrt. Oppositionelle warfen der Regierung vor, damit auch Kritik am Krisenmanagement unterdrücken zu wollen. (mit dpa)
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