Zum Interview erreichen wir den Kanzler in spe, Friedrich Merz, in seinem Ferienhaus in Bayern. Ein Gespräch über das Klima in der Koalition, Kabinettsposten, seine Antwort auf Trump und Putin – und die Frage, wann die Deutschen die versprochenen Entlastungen spüren.
Herr Merz, stecken Ihnen die Koalitionsverhandlungen noch in den Knochen?
Friedrich Merz : Die Verhandlungen waren natürlich für alle Beteiligten anstrengend, aber die Anstrengung hat sich gelohnt.
Was war das Anstrengendste für Sie?
Merz : Wir wollten innerhalb von vier Wochen ein Regierungsprogramm mit Parteien aufstellen, die im Wahlkampf hart miteinander gestritten hatten. Da muss man natürlich erst einmal die gemeinsamen Schnittmengen finden. Das war ein Gewöhnungsprozess, wir mussten uns zunächst auch persönlich besser kennenlernen. Das war keine ganz einfache Sache, aber es ist uns geglückt.
Der Umgangsstil insgesamt war sehr gut. Das hat mich gefreut.
Wer hat Sie in den vergangenen Wochen am meisten überrascht?
Merz : Die Gesprächsatmosphäre, vor allem mit den drei Unterhändlern der SPD Lars Klingbeil, Saskia Esken und Matthias Miersch war sehr angenehm. Und auch der Umgangsstil insgesamt war sehr gut. Das hat mich gefreut.
Ganz am Anfang stand die Entscheidung über das gigantische Schuldenpaket. Kritiker sprechen von Wortbruch, Ihr Generalsekretär sieht eine „Glaubwürdigkeitslücke“.
Merz : Man darf nicht vergessen, in welcher Lage wir waren: Eine Woche vor der Bundestagswahl hatten wir die abrupte Kehrtwende der US-Regierung auf der Münchner Sicherheitskonferenz erlebt. Dazu kam der Eklat beim Besuch von Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus und die weitere Eskalation des Krieges in der Ukraine. Da ist im Zeitraffer klar geworden, dass dies nun Teil zwei der Zeitenwende ist. Wir mussten reagieren.
Koalitionsvertrag steht – Wie geht es jetzt weiter?
Die wichtigste Arbeit ist getan – der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD steht. Aber bis zur Bildung der neuen schwarz-roten Bundesregierung wird noch einige Zeit vergehen. Nicht alle Daten stehen bereits sicher fest.
SPD lässt Mitglieder entscheiden
Zunächst werden CDU, CSU und SPD den Koalitionsvertrag jeweils innerparteilich absegnen lassen. Am weitesten geht die SPD, die dazu eine Mitgliederbefragung abhält. Alle Mitglieder werden per Post angeschrieben, die Abstimmung soll dann aber rein digital erfolgen. Geschehen könnte dies in der Woche vor und nach Ostern. Die SPD hatte auch 2013 und 2018 über die Koalitionsverträge mit der Union ein Mitgliedervotum eingeholt. Beide Male gab es große Zustimmung. Bei der Ampel-Koalition mit Grünen und FDP gab es 2021 dagegen keinen Mitgliederentscheid.
CDU beruft kleinen Parteitag ein
Auch in der CDU wurden Forderungen nach einer Mitgliederbefragung laut. Nach den Parteistatuten entscheidet aber ein Kleiner Parteitag (Bundesausschuss) über das Ergebnis von Koalitionsverhandlungen. „Und das werden wir so auch handhaben“, stellte der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei, klar. Als Termin dafür wird dem Vernehmen nach der 28. April angepeilt.
Bei der CSU reicht ein Vorstandsbeschluss
Im Gegensatz zu SPD und CDU ist die parteiinterne Abstimmung über den Koalitionsvertrag in der CSU deutlich einfacher. Obwohl die Parteisatzung keinerlei Vorgaben macht, wird Parteichef Markus Söder den Vorstand darüber abstimmen lassen. Dessen Zustimmung gilt im Grund als sicher. Das Votum hilft Söder aber auch, den Vertrag besser gegen Kritik aus den eigenen Reihen abzusichern.
Kanzlerwahl im Bundestag
Abgeschlossen wird die Regierungsbildung durch die Wahl des neuen Bundeskanzlers und die Ernennung seines Kabinetts. Dafür ist der 7. Mai im Gespräch. Nach Artikel 63 des Grundgesetzes wird der Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag ohne Aussprache gewählt. „Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt.“ dpa
Die Mehrheit der Deutschen haben Sie noch nicht überzeugt: Nur 36 Prozent finden Sie als Bundeskanzler gut …
Merz : Wir sehen die Zweifel in der Bevölkerung. Und ich weiß, dass da noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten ist. Viele fragen sich: Können die das? Schaffen die das? Das richtet sich nicht nur an mich und die Union, sondern generell an die demokratischen Parteien der politischen Mitte. Wir müssen diese Fragen jetzt mit einer guten Regierungsarbeit beantworten.
Viele erleben gerade ein Déjà-vu: Die künftige Koalition streitet über die Finanzen wie die Ampel. War es klug, die Erhöhung des Mindestlohns und die Steuerentlastungen für kleine und mittlere Einkommen infrage zu stellen? Die SPD musste das als Provokation verstehen.
Merz : Dem widerspreche ich energisch. Ich habe den Koalitionsvertrag zitiert: Unsere Vorhaben stehen unter Finanzierungsvorbehalt. Und der Mindestlohn wird nicht auf gesetzlichem Weg erhöht, das ist Sache der Mindestlohnkommission. Ich stehe vollumfänglich zu unserem gemeinsam vereinbarten Koalitionsvertrag.
Die Leute können sich also nicht darauf verlassen, dass die Steuern für kleine und mittlere Einkommen sinken?
Merz : Wir werden alles dafür tun, um die Spielräume dafür durch Wirtschaftswachstum und durch eine sparsame Haushaltsführung zu erreichen. Das Hauptproblem bei den kleinen und mittleren Einkommen sind übrigens nicht die Steuern, sondern die Sozialversicherungsbeiträge. Wenn wir hier nichts tun, werden sie weiter steigen. Deswegen haben wir zu Rente, Gesundheit und Pflegeversicherung auch Reformen verabredet.
Seit dem Zweiten Weltkrieg hatte vermutlich noch keine Regierung derart herausfordernde Umstände vor sich wie die, die jetzt ins Amt kommt.
Können Sie den Leuten versprechen, dass sie am Ende mehr Netto haben?
Merz : Das Einzige, was ich versprechen kann, ist, dass wir als Regierung sehr hart daran arbeiten werden, das zu erreichen. Zur Wahrheit gehört eben auch: Seit dem Zweiten Weltkrieg hatte vermutlich noch keine Regierung derart herausfordernde Umstände vor sich wie die, die jetzt ins Amt kommt.
Der heikelste Satz des Koalitionsvertrags steht auf Seite 51: „Alle Maßnahmen stehen unter Finanzierungsvorbehalt.“ Alle? Auch die Mütterrente?
Merz : Auch bei dem Satz gibt es keinen Interpretationsspielraum.
Das heißt, es gilt auch für die steuerlichen Entlastungen der Unternehmen?
Merz : Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen schnell verbessern. Hohe Abschreibungsmöglichkeiten sind dafür ein sehr wirksames und vergleichsweise günstiges Mittel. Wenn es den Betrieben besser geht, gewinnen wir am Ende auch mehr Spielraum für Einkommensteuersenkungen. Aber wir brauchen dazu eben Wachstum. Wenn unsere Volkswirtschaft weiter schrumpft, werden die Spielräume kleiner.
Wenn es schlecht läuft, gibt es gar keine Entlastungen?
Merz : Wenn wir es richtig machen, dann wird es Entlastungen geben.
Jetzt läuft die SPD-Mitgliederbefragung. Rechnen Sie mit einem Ja?
Merz : Ein anderes Ergebnis kann und will ich mir nicht vorstellen.
Und die Union? Bekommen Sie noch wütende Mails von der enttäuschten Basis?
Merz : Es gab während der Verhandlungen in der Tat einige Verunsicherungen. Aber seitdem der Text vorliegt und die Inhalte klar sind, ist die Skepsis weitgehend verflogen. Ich bemerke jetzt eine wirklich große Zustimmung. Beim Bäcker, auf der Straße und überall dort, wo ich Menschen begegne.
Wir haben nicht den Ehrgeiz, Glamour zu verbreiten. Es wird eine Arbeitskoalition.
Wann wird der Koalitionsvertrag unterschrieben – und wo? Bei der Ampel war es eine coole Hafen-Location.
Merz : Wir haben nicht den Ehrgeiz, Glamour zu verbreiten. Es wird eine Arbeitskoalition. Alle öffentlichen Bilder von uns werden deswegen nüchtern und sachlich sein. Den genauen Termin und den Ort stimmen wir mit der SPD noch ab.
Keine Selfies mit Lars Klingbeil und Markus Söder?
Merz : Die hat es bisher nicht gegeben. Und die wird es, wenn es nach mir geht, auch in Zukunft nicht geben.
Ist ihre Kabinettsliste fertig?
Merz : Sie entsteht gerade.
Wo werden die Bürger gleich im Alltag erleben, dass eine neue Regierung regiert?
Merz : Es wird ein Arbeitsprogramm für die ersten Wochen der Regierung geben. Die ersten Themen, die wir anpacken werden, sind die verschärften Grenzkontrollen mit Zurückweisungen, aber auch Maßnahmen zum Bürokratierückbau und die Einführung der Aktivrente. Wichtig ist, dass wir bis zum Sommer die Stimmung im Land verbessern. Die Bevölkerung muss merken, dass es einen Unterschied macht, wenn es eine neue Regierung gibt.
Viele Menschen haben Angst vor einem Krieg mit deutscher Beteiligung. Zu Recht?
Merz : Deutschland ist in der Tat bedroht – nicht morgen oder übermorgen, sondern heute. Wir sehen massive Beschädigungen unserer Infrastruktur, Eingriffe in unsere Datennetze und Aktivitäten ausländischer Geheimdienste. Die wichtigste Aufgabe der neuen Regierung wird sein, der Bevölkerung zu erklären, vor welchen Herausforderungen wir stehen. Wir müssen uns besser verteidigen können, um uns nicht verteidigen zu müssen. Man kann es auch mit dem US-Politologen Eliot Cohen sagen: Europa hat lange genug Urlaub von der Geschichte gehabt. Dieser Urlaub ist jetzt vorbei.
Hat Putin schon gewonnen?
Merz : Er führt diesen Krieg mit einer immer größeren Rücksichtslosigkeit gegen die ukrainische Zivilbevölkerung. Wir müssen alles tun, um diesen Krieg zu beenden.
Sie wollen Taurus liefern, die SPD ist sehr skeptisch. Ein Fall für die Richtlinienkompetenz des künftigen Bundeskanzlers?
Merz: Wir sollten aufhören, über Pseudogewissheiten bei einzelnen Waffensystemen zu diskutieren. Wir brauchen eine vertiefte strategische Debatte im Kreise unserer Verbündeten zu der Frage, was mit Blick auf die Ukraine unsere Ziele sind und wie wir sie gemeinsam erreichen können. Aber die Debatte darüber gehört nicht in die Öffentlichkeit, nicht in Talkshows und nicht in die Zeitungen. Wir müssen Wladimir Putin im Ungewissen darüber lassen, was wir planen und was wir tun.
Die AfD ist stark wie nie. Trauen Sie sich zu, die extrem Rechten wieder zurückzudrängen?
Merz : Wir wollen die Ursachen für diese Unzufriedenheit und diese Resignation beseitigen. Die Ursachen sind vor allem die illegale Migration, ein Staat, der als nicht mehr funktionsfähig empfunden wird, die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, Insolvenzen und steigende Arbeitslosigkeit.
Wann beginnt die Kehrtwende bei der Asylpolitik? Am ersten Tag Ihrer Kanzlerschaft?
Merz : Der neue Bundesinnenminister wird damit sofort beginnen.
Werden alle irregulären Einreiseversuche zurückgewiesen? Also auch diejenigen, die „Asyl“ sagen und damit bislang einreisen konnten?
Merz : Das ist unsere Absicht.
Die Kanzlerwahl soll am 6. Mai stattfinden. Werden Sie noch im Mai zu Donald Trump reisen?
Merz : Ein genauer Termin steht noch nicht fest, aber auch diese Reise wird aller Voraussicht nach zeitnah stattfinden.
Trumps Politik ist eine Achterbahnfahrt. Erwarten Sie, dass das jetzt vier Jahre so bleibt?
Merz : Die USA werden die Welt weiter mit sehr unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Entscheidungen konfrontieren. Ich werde mit Präsident Trump darüber reden und versuchen herauszufinden, was uns trennt und was wir an Gemeinsamkeiten haben. Die deutsch-amerikanischen Beziehungen sind und bleiben für alle Seiten sehr wichtig und im gegenseitigen Interesse.
Wachen Sie eigentlich manchmal nachts auf und fragen sich: Warum tue ich mir das alles an?
Merz : Ich empfinde es als große Auszeichnung, an einer so wichtigen Stelle Verantwortung für Deutschland übernehmen zu dürfen. Natürlich denke ich gelegentlich auch an die Last dieser Verantwortung. Aber ich habe Gott sei Dank einen guten Schlaf. Den brauche ich, um ausgeruht auch am nächsten Tag wieder an die Arbeit zu gehen.
Nehmen Sie sich zu Ostern eine Auszeit?
Merz : Ronald Reagan hat mal gesagt, er arbeite maximal zehn Stunden am Tag, denn Entscheidungen, die getroffen werden, wenn alle müde und übernächtigt sind, seien keine guten Entscheidungen mehr. Ich finde, dass wir es verdient haben, dass wir uns mal ausruhen und unsere Gedanken sortieren.
Sie sind über Ostern in Ihrem Ferienhaus in Bayern?
Merz : Ich werde ausschlafen, aber auch große Teile meiner Familie treffen.
Sind Sie während der Koalitionsverhandlungen überhaupt mal nach Hause ins Sauerland gefahren?
Merz : Ich bin jedes Wochenende wenigstens kurz zu Hause gewesen.
Finden es Ihre Enkel eigentlich cool, dass ihr Opa Kanzler wird?
Merz : (Lacht) Darüber werde ich mit einigen von ihnen über Ostern reden.
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