Gastbeitrag - Ehrgeizige Weltveränderer halten sich heute zurück / Wissenschaftler beklagt Verfall der Sitten

"Politiker werden verunglimpft"

Von 
Stephan Bierling
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Die Staatschefs Winston Churchill (England/von links), Franklin D. Roosevelt (USA) und Josef Stalin (Sowjetunion) beraten 1945 die Neugestaltung Europas.

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Regensburg. Europa und die USA stehen unter Druck wie seit Jahrzehnten nicht mehr: China und Russland fordern die liberale Weltordnung heraus und brechen das Völkerrecht, die Türkei driftet in Richtung Diktatur, Syriens Baschar al-Assad und Nordkoreas Kim Jong Un verhöhnen mit Giftgaseinsätzen und Nukleartests zivilisatorische Errungenschaften. Und der Westen zerlegt sich selbst - nicht nur, aber auch wegen seines überforderten Führungspersonals. In Zeiten, in denen die Europäer und Amerikaner einen Roosevelt, Churchill, de Gaulle oder Adenauer bräuchten, bekommen sie Cameron, Hollande und Trump. Die amerikanischen und französischen Präsidentschaftswahlen haben drastisch vor Augen geführt, wie dünn die Personaldecke für das höchste Staatsamt selbst in alten Demokratien ist. Es gibt drei Hauptgründe, warum politische Führungspersönlichkeiten so selten geworden sind im Westen: Sozialisation, Selektion und Technologie.

Der erste: Fast alle aktiven Politiker verfügen über völlig andere Erfahrungen als ihre Vorgänger. Wer Weltkriege miterlebte, die Große Depression oder den Nationalsozialismus, wer Freiheit und Demokratie gegen Hitler und Stalin verteidigte, wer Demokratien aus der Asche des schrecklichsten Konflikts der Geschichte errichtete, musste den Blick auf die existenziellen Herausforderungen lenken. Es waren dramatische Zeiten, die Vollblutpolitiker wie Roosevelt & Co. gebaren, und es waren epochale Fragen, die sie zu entscheiden hatten.

Stunde der Opportunisten

Die meisten heutigen Staats- und Regierungschef dagegen wurden in Gemeinwesen sozialisiert, die stabil, geordnet und sicher sind, aber auch bürokratisch und hedonistisch. Zugleich differenzieren sich die modernen Gesellschaften immer mehr aus: Die klaren Konfliktlinien zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Kirche und Staat, zwischen Links und Rechts verschwimmen, neue soziale Milieus formieren sich, das Parteiensystem zersplittert. Das alles stärkt individuelle Freiheit und erhöht die Vielfalt. Es erschwert jedoch jedes "Durchregieren", wie es Kanzlerin Angela Merkel einmal genannt hat.

Solche Bedingungen sind die Nährsuppe für Pragmatiker und Opportunisten. Kraftvolle politische Gestalter haben in diesen Zeiten keine Konjunktur. Wo Freiheit, Demokratie und Frieden selbstverständlich sind, wo Selfie, Körperkult und Infantilität dominieren, braucht es keine Leidenschaft und keine Vision - die wichtigsten Merkmale einer politischen Führungspersönlichkeit. Nicht umsonst wuchsen die Politiker, die sich seit dem Ende des Kalten Kriegs am stärksten für die Freiheit einsetzten, in kommunistischen Diktaturen auf: der tschechische Präsident Václav Havel, Bundespräsident Joachim Gauck und Kanzlerin Merkel.

Der zweite Grund: Die Auswahl des politischen Personals hat sich dramatisch verändert in den vergangenen 50 Jahren. Führungsfiguren, die über Erfahrung außerhalb der Politik verfügen, sind rar geworden. Ein Drittel des Deutschen Bundestags sind Beamte und Angestellte. Unternehmer, Selbstständige oder Arbeiter findet man dort kaum. Vor allem nimmt die Zahl der Politkarrieristen rapide zu. Fast 20 Prozent der deutschen Parlamentarier haben zuvor für Partei, Fraktion, Abgeordnete, politische Stiftungen oder Gewerkschaften gearbeitet.

Heute macht man politische Karriere über jahrzehntelange Parteiarbeit, dient sich von Posten zu Posten nach oben, bis man durch Strebsamkeit, Sitzfleisch und Seilschaften in die höchsten Ämter gelangt. Für die kreativsten Köpfe ist eine solche Laufbahn unattraktiv, nicht zuletzt wegen der schlechten Bezahlung. Sie gründen lieber Unternehmen oder werden Manager, Anwälte und Ärzte. Wer heute die Welt verändern will, geht nicht in die Politik, sondern ins Silicon Valley. Steve Jobs von Apple, Jeff Bezos von Amazon, Sergey Brin und Larry Page von Google, Mark Zuckerberg von Facebook und Elon Musk von Tesla prägen die Gesellschaften stärker, als jeder Politiker es könnte.

Eigennutz als Leitschnur

Wechselten erfolgreiche Unternehmer früher oft in die Politik, ist es heute andersherum. Viele Politiker scheinen ihren Beruf als Durchlauferhitzer für lukrative Wirtschaftsjobs zu betrachten. Kanzler Gerhard Schröder verdingte sich gleich nach seinem Machtverlust bei der russischen Gazprom, Bill Clinton und Tony Blair scheffelten nach ihrer Politkarriere Millionen als Redner und Berater, obwohl ihre ganze Prominenz auf einem öffentlichen Wahlamt beruhte. Andere sahnen schon während ihrer Amtszeit ab durch hochdotierte Vorträge, Aufsichtsratsjobs, scheinbeschäftigte Verwandte.

François Fillon ist wohl nur deshalb nicht Präsident Frankreichs geworden, weil im Wahlkampf herauskam, dass er als Abgeordneter Frau und Kindern fast eine Million Euro an Staatsgeldern zuschusterte für Jobs, die sie nicht machten. Das wäre bei ihren Vorgängern unvorstellbar gewesen: Sie lebten für die Politik, sie starben oft im Amt, sie wirkten als Gewissen der Nation.

Die neuen Profi-Politiker sind extrem gut darin, Ämter zu gewinnen und Koalitionen zu schmieden. Aber sie sind Mechaniker der Macht und haben nur taktisch, selten strategisch zu denken gelernt. Manche setzen aus persönlichen Machtinteressen sogar das Erbe der Gründergeneration leichtfertig aufs Spiel. Die beiden eklatantesten Beispiele: Frankreichs Präsident Jacques Chirac wollte 2005 mit einem Referendum über den EU-Verfassungsvertrag die linke Opposition spalten und stürzte stattdessen die Union in eine tiefe Krise. 2016 übertrumpfte ihn der britische Premier David Cameron noch an eigensüchtigem Hasardspiel, als er aus innerparteilichem Kalkül ein Plebiszit über den Brexit ansetzte. Der Rest ist bekannt: Nachdem er sein Land und die EU aufs Schwerste beschädigt hatte, verabschiedete er sich aus der Politik.

Permanente Kontrolle

Der dritte Grund, warum das Führungspersonal so austauschbar geworden ist, liegt in der Entwicklung der modernen Medien. Politiker gehören heute zu den am stärksten überwachten Berufsgruppen. Keine Ortsversammlung, kein Bürgergespräch, kein Parteitreffen, in dem nicht eine gezückte Handykamera ihre Äußerungen aufzeichnet und für alle Zeiten im World Wide Web archiviert. Im US-Wahlkampf 2008 etwa schickten die Demokraten Aktivisten mit Kameras zu Veranstaltungen der republikanischen Präsidentschaftskandidaten, um verbale Ausrutscher auszuschlachten.

Die Folge: Spontaneität, Formulierungslust, Ironie, Originalität werden zum Risiko, aus Angst sprechen Politiker noch öfter in Phrasen als ohnehin schon. Kaum eine Rede kommt mehr ohne "nachhaltig", "zukunftsfähig", "sozial gerecht" oder ähnliche Worthülsen aus. Gleichzeitig löst die angebliche Anonymität des Internets viele Hemmschwellen. Politiker werden in Leserkommentaren, Blogs und sozialen Medien verunglimpft und bedroht.

In ruhigen Zeiten ist der Mangel an politischen Führungspersönlichkeiten in den Staaten des Westens kein großes Problem. Vollblutpolitiker benötigen sie dann nicht, es reichen Verwalter der Macht. Aber heute, wo Demokratie, Freiheit und Frieden durch Diktatoren wie Putin und Erdogan gefährdet sind, wo Automatisierung, Robotik und künstliche Intelligenz die Arbeitswelt revolutionieren, wo Parteien ihre weltanschauliche Bindewirkung verlieren und Stammwähler aussterben, sind charismatische Politiker nötiger denn je.

Seiteneinsteiger gesucht

Weil Führungsfiguren in der politischen Klasse kaum mehr zu finden sind, suchen sie viele Wähler außerhalb. Einen besonderen Reiz üben dabei Geschäftsleute aus, die für Erfolg, Kompetenz und Entscheidungsfreude stehen. Die demokratischen Parteien bemühen sich bisher viel zu wenig darum, Hochkaräter aus Wirtschaft und Gesellschaft als Seiteneinsteiger für politische Top-Positionen zu gewinnen.

Im schlimmsten Fall stoßen autoritäre Narzissten wie Silvio Berlusconi oder Donald Trump mit ihrer Verschmelzung von Fakt und Fiktion, von Wahrheit und Lüge in dieses von den etablierten Parteien geschaffene Vakuum. Vielleicht bedarf es erst wieder schwieriger Zeiten, damit sich die Besten, Klügsten und Ehrenwertesten dazu entscheiden, Politik zu ihrem eigentlichen Beruf zu machen.

Stephan Bierling lehrt Internationale Politik an der Universität Regensburg.

Stephan Bierling

  • Stephan Bierling ist Professor für Internationale Politik und transatlantische Beziehungen an der Universität Regensburg.
  • Schwerpunkte sind die deutsche, europäische und amerikanische Außenpolitik sowie das transatlantische Verhältnis.
  • Gastprofessuren in den USA hatte der 55-Jährige unter anderem an der University of California/San Diego, 2003 und am Austin College/Texas, 1993. pre (Bild: dpa)

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