Ukrainekrieg

Reporter in der Ukraine: Unser Jahr im Kriegsgebiet

Jan Jessen und Reto Klar berichten regelmäßig aus der Ukraine - wie der Angriff das Land und sie selbst verändert hat

Von 
Jan Jessen
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Die Witwe Aljona Lapchuk in ihrem zerstörtem Haus in Cherson. © Reto Klar

In den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 sitzen Menschen verstört in der Lobby des Hotels Khreschatyk in Kiew, neben sich ihre gepackten Taschen und Koffer. Sie flüstern, schauen ungläubig und ratlos auf ihre Mobiltelefone, halten sich gegenseitig fest. Der Rezeptionistin stehen die Tränen in den Augen. Das Unvorstellbare ist geschehen. Russland hat die Ukraine überfallen.

Es ist der erste Tag des Krieges, der in den nächsten Monaten so viel Leid und Zerstörung über das Land bringen wird, ein Krieg, in dem Zehntausende Menschen sterben und Städte zu Ruinenlandschaften werden. Wir, die Reporter dieser Redaktion, waren seit diesem 24. Februar immer wieder in der Ukraine unterwegs und haben über diesen Krieg berichtet. Wir haben gesehen, wie er das Land und seine Menschen verändert hat. Wir haben erlebt, wie er uns verändert hat.

Mykola Kylichenko und Iryna Kylevets trauern um ihre Brüder. © Reto Klar

Abschied von Männern und Vätern

Mir wird am Tag nach dem Beginn des russischen Überfalls erst richtig bewusst, dass Krieg herrscht. Die Sirenen des Luftalarms gellen durch die Häuserschluchten der ukrainischen Hauptstadt, die Straßen sind menschenleer. Auf der sechsspurigen Hauptschlagader Kiews, die am Majdan vorbeiführt, fahren keine Autos mehr. Es ist eine unwirkliche, eine gespenstische Szenerie, die an einen dystopischen Endzeitfilm erinnert. Die Einwohner Kiews fliehen in Scharen aus der Metropole, in der noch am Abend des 23. Februar das Leben pulsierte.

Am 25. Februar sind die Ausfallstraßen Richtung Westen verstopft. Hunderttausende wollen raus aus der Ukraine. An der Grenze zur Slowakei stauen sich die Autos auf mehr als 30 Kilometer Länge. In der Eiseskälte wärmen sich Menschen an Lagerfeuern, Helfer verteilen Suppe und warme Getränke. Den Flüchtlingen, die hier mit den hastig zusammengeklaubten und in Koffern und Rucksäcken verpackten Resten ihres Lebens warten, steht die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Es spielen sich herzzerreißende Szenen ab. Frauen und Kinder verabschieden sich von den Ehemännern, den Vätern, die bleiben müssen, um gegen den Feind zu kämpfen, der im Norden von Belarus aus auf Kiew vorrückt, im Süden Cherson einnimmt, im Osten den Donbass attackiert.

Dieser Krieg ist anders als die anderen Konflikte, aus denen wir in den vergangenen Jahren berichtet haben. Anders als der Krieg auf dem Balkan, anders als die bewaffneten Auseinandersetzungen im Irak oder in Afghanistan. In der Ukraine kämpfen zwei moderne Armeen gegeneinander. Die russischen Streitkräfte beschießen ukrainische Städte mit Marschflugkörpern und Raketen, die gewaltige Zerstörungen anrichten.

Es ist zudem ein Propagandakrieg, in dem beide Seiten versuchen, die Informationshoheit zu gewinnen. Im Krieg stirbt zuerst die Wahrheit, das ist uns bewusst. Es gibt in diesem Krieg viele Dunkelfelder. Die ukrainischen Streitkräfte beschränken die Zugänge zu den Kampfgebieten. Über die Lage in den von Separatisten und russischen Streitkräften besetzten Regionen zu berichten, ist unmöglich, dafür gibt es seitens Moskaus keine Genehmigung.

Fotograf Reto Klar (l.) und Jan Jessen im April 2022 in Butscha. © Reto Klar/Funke Foto Services

In den ersten Wochen nach dem Beginn des russischen Überfalls erleben wir ein Land, in dem Angst, Nervosität und Misstrauen herrschen. An den zahllosen eilends errichteten Checkpoints mit ihren von Freiwilligen zusammengeschweißten Panzersperren, den Betonbarrieren und den von Sandsäcken geschützten Wachhäusern kontrollieren die ukrainischen Soldaten scharf. Wenn der Luftalarm heult, suchen die Menschen mitten in der Nacht Schutz in Luftschutzkellern.

Es sind die Wochen, in denen die schier endlosen Kolonnen der russischen Panzer kurz vor Kiew stehen und die russischen Streitkräfte im Osten und Süden scheinbar unaufhaltsam vorrücken. Wir erleben aber auch ein Land, das sich mit aller Kraft gegen die Invasion wehrt. Wir sind beeindruckt von dem Widerstandsgeist. „Slava Ukraini!“, „Ruhm der Ukraine!“, ist der gängige Gruß an den Checkpoints, eine alte Frau sagt uns bei Lwiw, sie werde ihren Bauernhof mit der Mistgabel verteidigen, wenn die Russen kämen. Uns wird klar: Putin und seine Clique im Kreml haben sich verrechnet. Kiew wird nicht fallen. Die Ukraine wird nicht fallen.

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Tote mit gefesselten Händen

Über den Krieg zu berichten, heißt, mit menschlichen Schicksalen, mit menschlichen Tragödien konfrontiert zu werden, mit Zerstörung, Leid und Tod. Wir sehen die Ruinen von Wohnblöcken, in denen noch wenige Tage zuvor Menschen gelebt, gelacht, geliebt haben. Wir besuchen Friedhöfe, auf denen sich ein frisch ausgehobenes Grab an das nächste reiht. Wir werden Zeugen, wie in Isjum im Nordosten nach der Befreiung Tote aus eilends gescharrten Gräbern geholt werden, manche von ihnen mit gefesselten Händen. Wir treffen Menschen, die betäubt vor ihren zu Trümmern zerbombten Häusern stehen, Menschen, die ihre Angehörigen verloren haben.

Es ist immer wieder ein Balanceakt, mit jenen zu sprechen, deren Lebenswirklichkeit so jäh und unvermittelt zu Dunkelheit geworden ist, es ist ein vorsichtiges Antasten. Wir wissen, wir müssen ihre Grenzen respektieren und wir wollen dennoch ihre Geschichten erzählen, um dem Krieg und seinem Grauen Namen und Gesichter zu geben. Ihr Schmerz und ihre Verzweiflung lassen uns nicht kalt. Manchmal vergessen wir die professionelle Distanz, umarmen die Trauernden, versuchen Trost zu spenden. Es ist auch der Versuch, nicht selbst in Tränen auszubrechen.

Wir halten an, jubeln mit Oleh

Wenn wir durch den Krieg reisen, sind wir nicht allein. Mit uns unterwegs sind unsere ukrainischen Mitarbeiter, die uns Zugänge eröffnen, Reiserouten planen, fahren, übersetzen. Ohne sie wäre unsere Berichterstattung nicht möglich. Oleh Reshetniak, sein Vater Mykola und Dmytro Kopitskyy werden im Laufe der Monate zu Freunden. Olehs Frau ist zu Beginn des Krieges hochschwanger nach Dänemark geflüchtet. Im April erreicht uns auf einer Landstraße Richtung Osten die Nachricht, dass seine Tochter Victoria gesund zur Welt gekommen ist. Wir halten an, jubeln mit Oleh, der mit zitternden Händen eine Zigarette raucht.

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Als sich der stählerne russische Klammergriff um Kiew im Frühjahr löst und die Invasoren ihren ersten Rückzug antreten müssen, verändert sich das Kriegsgeschehen. In den Monaten darauf wendet sich das Blatt auf dem Schlachtfeld zugunsten der ukrainischen Verteidiger. Im Herbst können sie die russischen Streitkräfte im Nordosten und Süden zurückdrängen. Wir spüren, wie sich die Stimmung im Land verändert. Die Menschen gewöhnen sich an den Krieg. Vielerorts registrieren sie den Luftalarm nur noch schulterzuckend. In den Städten, in denen Geschosse einschlagen, sind Restaurants wieder geöffnet, geht das Leben weiter.

Auch wir gewöhnen uns an den Krieg, so seltsam das klingt. Der Luftalarm und das Geräusch von Explosionen verlieren ihren anfänglichen Schrecken. In Frontstädten wie Bachmut unterhalten wir uns mit verbliebenen Einwohnern, während im Hintergrund unentwegt der Gewitterdonner der Artilleriegefechte dröhnt. Wir wissen, wir dürfen die Gefahren nicht unterschätzen. Aber wir werden gleichmütiger. Die Wut und der empörte Widerstandswille der Bevölkerung der ersten Kriegsmonate weicht immer mehr einer Kriegsroutine, in der sich Traurigkeit über die gewaltigen Verheerungen mit einer Art entschlossener Schicksalsergebenheit mischt.

„Wir wollen diesen Krieg nicht, aber wir müssen ihn gewinnen. Es kann keinen Frieden geben, solange die Russen noch unser Land besetzen“, ist jetzt Grundtenor in den Gesprächen. Ein junger Soldat, der sich freiwillig gemeldet hat und an der Front kämpft, sagt uns, er verspüre keinen Drang zum Töten mehr, keinen Hass wie am Anfang des Krieges. „Ich mache einfach meinen Job.“

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