Washington. Ich hätte gewarnt sein können. Der "Washington Post"-Kolumnist Dana Milbank hatte Ende 2015 geschrieben, falls Trump Präsidentschaftskandidat der Republikaner werde, würde er seinen Artikel verspeisen. Im Mai 2016 musste er die Leser um Rezepte für ein schmackhaftes Papiergericht bitten. Aber bei den Präsidentschaftswahlen würde den Wahlforschern so eine Fehleinschätzung nicht noch einmal passieren, glaubte ich. Daran war ja nicht eine schwer ausrechenbare kleine Wählergruppe beteiligt wie bei den Vorwahlen, sondern das ganze Volk, und die Prognose-Modelle hatten sich in der Vergangenheit glänzend bewährt.
New York Times, Reuters/Ipsos, HuffPost und Princeton Wahlkonsortium gaben Hillary Clinton vor der Wahl Siegchancen von 85, 90, 98 und 99 Prozent. "FiveThirtyEight", das 2012 das fast Unmögliche geschafft und den Wahlsieger in allen Bundesstaaten korrekt vorhergesagt hatte, war da mit seinen 70 Prozent fast skeptisch. Big Data und ausgefeilte Algorithmen erklärten die Wahl unisono für entschieden. Sogar ein Mitglied von Trumps Wahlkampfteam meinte am Wahltag, sein Kandidat brauche ein Wunder, um ins Weiße Haus einzuziehen.
Das "Wunder" ist geschehen - Trump triumphierte nicht nur über Clinton, sondern auch über die Wahlprognostiker. Die US-Präsidentschaftswahlen 2016 sind für Meinungsforscher und Politologen zum Fiasko geworden. Dafür gibt es drei Gründe.
Erstens bewegen wir Wissenschaftler uns meist unter unseresgleichen: Universitätsabsolventen und Bildungsbürgern. Wir leben in großen Städten und treffen uns auf Konferenzen, bei Podiumsdiskussionen und in Seminarräumen. Die typischen Trump-Wähler - weiß, männlich, Arbeiter, auf dem Land zuhause, niedriges Bildungs- und Einkommensniveau - kennen wir nur aus Statistiken. Kaum einer von uns geht in ihre Bars in Nebraska, besucht ihre Jahrmärkte in Iowa, isst mit ihnen frittierten Catfish in Louisiana.
Kathy Cramer, Politikwissenschaftlerin an der Universität von Wisconsin, hat genau das getan - fast ein Jahrzehnt lang. In ihrem gerade erschienenen Buch "Die Politik des Grolls" taucht sie tief in die Gefühlswelt ländlicher Wähler ein. Cramers Erkenntnis: Fast alle eint der Glaube, zu kurz zu kommen - bei politischen Entscheidungen, bei staatlichen Leistungen, bei gesellschaftlichem Respekt. Diese Sicht wird kaum von Fakten gestützt und blendet aus, wie sehr auch diese Gruppe von staatlichen Sozialleistungen und Subventionen profitiert. Sie ist aber zum Mantra geworden. Donald Trump, analysiert Cramer, erschloss dieses Wählerpotenzial, indem er sagte: 'Ihr habt Recht, ihr bekommt euren fairen Anteil nicht, und schaut euch diese anderen Gruppen an, die mehr bekommen, als ihnen zusteht. Einwanderer. Muslime. Wie tief diese Ressentiments sitzen, ahnten die Demoskopen nicht.
Anhänger falsch eingeschätzt
Zweitens nahmen wir Wahlforscher und Politologen Trump "wörtlich, aber nicht ernst", wie der Silicon Valley-Milliardär und Trump-Fan Peter Thiel treffend feststellt. Wir wollten nach seinen rabiaten Ankündigungen immer Details darüber erfahren, wie er denn illegale Einwanderer deportieren oder den IS auslöschen wird. Damit schätzten wir den Kern von Trumps Wahlkampf völlig falsch ein. Denn seine Wähler denken genau andersherum: Sie nehmen Trump ernst, aber nicht wörtlich. Sie verstehen, dass Trump keine Mauer errichten oder Muslimen die Einreise verbieten kann, sondern dass er ganz einfach eine härtere Einwanderungspolitik anstrebt. Wir Wissenschaftler wiesen Trump nach, wie widersprüchlich, wankelmütig und fehlerhaft er argumentierte. Für seine Anhänger spielte dies keine Rolle. Nicht weil sie ignorant sind, sondern weil für ihre Wahlentscheidung Fakten und politische Programme weniger zählen als die Frage: Ist das jemand, der meine Sorgen versteht?
Drittens schließlich müssen vor allem wir Politologen einsehen: Der Weg zu immer datenlastigeren und mechanistischeren Studien ist ein Irrweg. Seit zwei Jahrzehnten dominiert in den USA wie in Europa der Trend zu Statistik und Mathematik die Politikwissenschaft. In diesem Feld werden die meisten Professuren geschaffen, dort gibt es Forschungsgelder, dort existieren beste Publikationsmöglichkeiten.
Die Folge: Wir wissen immer mehr über immer weniger relevante Fragen und machen uns zu Sklaven der Qualität der erhobenen Daten. Viele Trump-Wähler hassen jedoch das Establishment so sehr, dass sie die Umfragen der Meinungsforscher boykottierten - ein Effekt, den es auch beim Brexit und bei den Erfolgen der AfD in Deutschland gab. Wie man es besser macht, hat der Washingtoner Professor Allan Lichtman gezeigt: Er sagte Trumps Wahlsieg auf Basis eines Katalogs von 13 inhaltlichen Fragen voraus, ohne wie der Rest der Kollegen gebannt auf die letzte Umfrage zu schielen.
Stephan Bierling (54) lehrt Internationale Politik an der Universität Regensburg und hatte einen Wahlsieg Clintons vorhergesagt.
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