Berlin. Berlin erlebt einen wunderbaren Spätsommertag, aber Christian Lindner ist schon ganz auf Herbst eingestellt. Während draußen noch Leute mit kurzen Hosen und T-Shirts herumlaufen, trägt der FDP-Chef einen Rollkragenpullover unterm Sakko. Es wirkt so, als habe sich da einer schon mal warm angezogen für die kältere, windige Jahreszeit.
Von einem „Herbst der Entscheidung“ reden sie seit einigen Tagen fortwährend bei der FDP. Am Montag steht Lindner in der Berliner Parteizentrale, neben ihm der brandenburgische Landesvorsitzende und Spitzenkandidat Zyon Braun. Die Freien Demokraten sind, man kann es nicht anders sagen, am Vortag bei den Landtagswahlen geschlachtet worden. So wie vor drei Wochen in Thüringen und Sachsen. Jetzt erhielten sie nur 0,8 Prozent der Stimmen und damit nicht einmal halb so viele wie die Tierschutzpartei. So viel Bedeutungslosigkeit war nie. Lindner und Braun sind sich einig, dass das am zugespitzten Zweikampf zwischen SPD-Ministerpräsident Dietmar Woidke und der AfD lag. Und am Bild, dass die zerstrittene Berliner Ampelkoalition mit Beteiligung der FDP seit geraumer Zeit abgibt.
Die Antwort der Liberalen darauf ist nicht etwa eine Debatte über die Frage, ob der bisherige Kurs klug war und Christian Lindner noch der richtige Parteichef ist. Sie haben sich entschieden, den Druck auf die Koalitionspartner weiter zu erhöhen. Das machen sie zwar schon seit mindestens zwei Jahren, indem sie sich bei wichtigen Themen demonstrativ von SPD und Grünen absetzen. Neu ist aber, dass die Führungsriege der Freien Demokraten offen mit der Möglichkeit eines vorzeitigen Ampel-Endes kokettiert.
Der Parteivorsitzende und Finanzminister nennt drei zentrale Punkte, die der FDP wichtig sind, bei denen sie Ergebnisse in ihrem Sinne sehen will: Es gehe darum, am besten gemeinsam mit der Union „Kontrolle und Konsequenz bei der Einwanderung herzustellen“. Es sollen also deutlich schärfere Gesetze in Sachen Asyl und Migration her. Außerdem müsse Deutschland wirtschaftlich wieder Kurs aufnehmen. Dabei geht es aus Sicht der Liberalen darum, in der Ampel zumindest das bereits vereinbarte Dynamisierungspaket umzusetzen, am besten noch mehr. Außerdem verlangt die FDP eine „stabilitätsorientierte Haushaltspolitik“ – der Entwurf des Bundeshaushalts soll ohne größere Abstriche durchs Parlament.
Wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre, würden die Freien Demokraten laut Umfragen hochkant aus dem Parlament fliegen. Bei Licht betrachtet haben sie jetzt zwei Möglichkeiten: Sie können ein Jahr lang weitermachen in der Ampel bis zum nächsten regulären Wahltermin. Dann müssen sie allerdings damit rechnen, dass die Hängepartie weitergeht, sie im Umfragetief verharren und dem kommenden Bundestag nicht mehr angehören werden. So wie nach der Wahl 2013.
Oder sie reichen in absehbarer Zeit die Scheidung ein beziehungsweise provozieren einen Rauswurf aus der Koalition – in der Hoffnung, dass ihre Kernklientel aus Mittelständlern und Freiberuflern bei vorgezogenen Neuwahlen diese Art von Kühnheit goutiert und es doch wieder für fünf Prozent plus X reicht. Es gibt genügend Themen, an denen man das Projekt Ampel scheitern lassen könnte. Migration und Haushalt gehören dazu. Aber auch die Rentenpolitik oder das geplante Tariftreuegesetz. Ein Ausstieg aus der Ampel wäre für die FDP technisch leicht zu bewerkstelligen: Sie müsste nur den Koalitionsvertrag aufkündigen und ihre Minister aus dem Kabinett zurückziehen. Kanzler Olaf Scholz (SPD) stünde ohne parlamentarische Mehrheit da. Scholz könnte dann zwar noch eine Zeitlang versuchen, einzelne Projekte mit wechselnden Mehrheiten durchzusetzen. Irgendwann wäre aber das Ende erreicht, er müsste die Vertrauensfrage stellen – die er verlieren würde. Der Weg zu vorgezogenen Neuwahlen wäre vorgezeichnet.
Der Kanzler könnte aber auch seinerseits versuchen, den Spieß umzudrehen und die Koalition zu disziplinieren – solange die Ampel noch existiert. Er könnte die Vertrauensfrage vor einem möglichen Bruch des Bündnisses stellen und hoffen, dass vielen FDP-Abgeordneten im Moment ein regelmäßiges Einkommen wichtiger ist als künftige Wahlergebnisse ihrer Partei. Das wäre natürlich nicht im Sinne der liberalen Strategen.
Wie sich die Dinge entwickeln werden, lässt sich nicht abschätzen. Drei Monate Herbst können ziemlich lang sein. Lindners Parteivize Wolfgang Kubicki sagte am Wahlabend, dass die Ampel innerhalb weniger Wochen einen gemeinsamen Nenner finden müsse. Bis Weihnachten warte man nicht mehr, so Kubicki gegenüber dieser Redaktion. Lindner entgegnete am Montag: „Diese Frist ist seine eigene Frist.“
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