Berlin. Vor 14 Tagen wurde der Europaabgeordnete und gebürtige Ost-Berliner Martin Schirdewan zum Chef der Linkspartei gewählt. Im Interview sagt er, was aus dem 9-Euro-Ticket werden soll.
Herr Schirdewan, warum tut sich die Linke so schwer, den russischen Vernichtungskrieg zu verurteilen?
Martin Schirdewan: Wir haben auf unserem Parteitag den Beschluss gefasst, dass wir den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands ablehnen und unsere Solidarität der Ukraine gilt.
Dem Beschluss ist ein quälender Streit vorausgegangen. Und Sie selbst haben im EU-Parlament gegen eine Resolution gestimmt, die den russischen Überfall verurteilt.
Schirdewan: Ich habe gegen eine Resolution gestimmt, die mehrere Teile hat. Den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg habe ich verurteilt. Aber die Resolution enthält auch einen Kurswechsel in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik hin zu Militarisierung und Aufrüstung. Deswegen habe ich in einer Gewissensentscheidung dagegen gestimmt. Ich sehe die Europäische Union in der Verantwortung, eine Friedensmacht zu sein, die als diplomatischer und nicht als militärischer Akteur in Erscheinung tritt.
Wenn die Linkspartei an der Regierung wäre – wie würden Sie der Ukraine helfen?
Schirdewan: Wir sind eben kein Teil der Bundesregierung. Unsere Positionen stimmen mit weiten Teilen der Bevölkerung überein. Wir unterstützen die Ukraine ökonomisch, indem wir uns für gezielte Sanktionen aussprechen gegen Putin und seinen Machtapparat. Wir unterstützen die Ukraine finanziell, indem wir uns für einen Schuldenschnitt einsetzen. Und wir unterstützen die Ukraine humanitär, indem wir die Geflüchteten in Deutschland und der Europäischen Union aufnehmen.
Der EU-Parlamentarier
- Martin Schirdewan (46) ist seit Juni 2022 neben Janine Wissler Co-Vorsitzender der Linken.
- Der Politikwissenschaftler sitzt seit 2017 im Europaparlament und ist Co-Vorsitzender der Linken-Fraktion (seit 2019).
- Sein Großvater ist Karl Schirdewan, Widerstandskämpfer und Ex-Mitglied des SED-Zentralkomitees und Politbüros.
Gegen Waffenlieferungen sperren Sie sich immer noch?
Schirdewan: Wir bleiben dabei, dass wir Waffenlieferungen für den falschen Weg halten.
Teile Ihrer Partei möchten Putin noch weiter entgegenkommen und die Sanktionen lockern – damit Russland den Deutschen nicht das Gas abdreht. Ist das auch Ihre Logik?
Schirdewan: Alle Politikerinnen und Politiker der Linken sind aufgefordert, unseren Parteitagsbeschluss zu vertreten: Wir fordern einen Energiepreisdeckel, aber nicht die Lockerung gezielter Sanktionen gegen Putins Machtapparat – und schon gar nicht die Inbetriebnahme von Nord Stream 2.
Wie soll dieser Energiepreisdeckel funktionieren?
Schirdewan: Wir wollen die Energiepreise deckeln, damit die Leute im nächsten Winter noch heizen und Fernsehen gucken können. Spanien und Portugal haben einen Höchstpreis definiert, mehr zahlen sie nicht. So werden die Preise für Versorger und Verbraucher stabil gehalten.
Die Deutschen könnten auch sparen, indem sie ihren Energieverbrauch reduzieren.
Schirdewan: Ich rate den Leuten, nicht auf die Verzichtspropaganda hereinzufallen. Es kann nicht darum gehen, weniger zu heizen oder kälter zu duschen. Wir brauchen eine gezielte Unterstützung einkommensschwacher Haushalte – mit einem sozialen Klimabonus von grundsätzlich 125 Euro im Monat, der für jedes weitere Haushaltsmitglied um 50 Euro aufgestockt wird.
Wie wollen Sie das bezahlen?
Schirdewan: Mit einer Übergewinnsteuer. Wir müssen bei den Ölmultis und Gaskonzernen die Krisenprofite abschöpfen. Das machen selbst neoliberale Länder wie Großbritannien. So können wir den Energiepreisdeckel und auch einen sozialen Klimabonus finanzieren.
Was soll aus dem 9-Euro-Ticket werden?
Schirdewan: Das 9-Euro-Ticket ist die einzige Maßnahme der Bundesregierung im Rahmen der Entlastungspakete, die positiv angenommen worden ist und zu einer spürbaren Entlastung der Bürger geführt hat. Das sollte man den Menschen nicht einfach wieder wegnehmen. Daher muss das 9-Euro-Ticket bis Jahresende verlängert werden. Für 2023 brauchen wir ein 1-Euro-Ticket pro Tag, also ein 365-Euro-Ticket für das ganze Jahr. Aber auch da können wir noch nicht stehenbleiben.
Sondern?
Schirdewan: Perspektivisch wollen wir einen kostenlosen Personennahverkehr. Wir brauchen eine echte Mobilitätswende.
Forderungen der Linken erfüllen sich selten – ist das ein Grund für Ihre Niederlagenserie bei den Wahlen?
Schirdewan: Wir haben uns in der letzten Zeit sehr schwergetan, Wählerinnen und Wähler zu überzeugen. Meine Co-Vorsitzende Janine Wissler und ich haben uns vorgenommen, die Trendwende zu schaffen.
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