Terrorismus - Mit ihrem Einsatz in Afghanistan wollten die USA das Terrornetzwerk Al-Kaida besiegen – doch mit der Machtergreifung der Taliban wurden Tausende gewaltbereite Gefängnisinsassen befreit

Weckruf an Dschihadisten

Von 
Can Merey
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Ein Taliban-Kämpfer steht an einem Kontrollpunkt in Kabul. Die radikalen Islamisten sollen noch enge Kontakte zu dem Terrornetzwerk Al-Kaida haben. © dpa

Kabul/Washington. Als die Taliban in Afghanistan eine Provinz nach der anderen unter Kontrolle brachten, öffneten sie mehr als ein Dutzend Gefängnisse. Tausende Häftlinge kamen frei, die mit der militant-islamistischen Bewegung eng verbunden sind. Und noch eine weitere Organisation dürfte sich über regen Zulauf freuen, da offenbar auch zahlreiche ihrer Mitglieder zu den Gefangenen zählten: das Terrornetzwerk Al-Kaida. Tausende Dschihadisten seien in die Freiheit entlassen worden, schätzt Terrorismus-Experte Charles Lister vom Middle East Institute (MEI) in Washington.

Auch die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) – trotz großer ideologischer Nähe mit den Taliban und Al-Kaida verfeindet – dürfte Morgenluft wittern. Die Anschlagsgefahr in Afghanistan gilt derzeit vor allem wegen des afghanischen IS-Ablegers als hoch. Dieser könnte das Chaos am Flughafen von Kabul für ein Attentat nutzen, etwa mit Sprengstoffanschlägen von Selbstmordattentätern. Es wäre eine Botschaft an die Welt, aber auch eine Blamage für die Taliban, weil sie ihre Sicherheitsgarantien nicht durchsetzen könnten.

Al-Kaida hält sich dort hingegen seit längerem bedeckt. Die Taliban und das Terrornetzwerk – das ist die Geschichte einer langen und engen Partnerschaft. Von Afghanistan aus ordnete die Al-Kaida-Ikone Osama bin Laden die Terroranschläge vom 11. September 2001 an, was zum US-Militäreinsatz und zum Sturz der Taliban führte.

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An ihrem Bündnis mit dem Terrornetzwerk hielt die Bewegung dennoch fest, zum Vorteil beider Seiten. Der Sieg der Taliban ist auch ein später Triumph Al-Kaidas, ausgerechnet kurz vor dem 20. Jahrestag der Anschläge. „Das beweist aus Sicht der Organisation, dass ihre Strategie aufgegangen ist“, sagt Guido Steinberg, Terrorismus-Experte der in Berlin ansässigen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). „Al-Kaida hat zusammen mit den Taliban die Macht übernommen.“

Enormer Propaganda-Erfolg

Fachleute sehen in dem Taliban-Vormarsch nicht zuletzt einen enormen Propaganda-Erfolg für die Dschihad-Bewegung in der ganzen Welt. Anhänger radikaler und gewaltbereiter Gruppen fühlen sich in ihrer Ansicht bestätigt, dass sie über die „Ungläubigen“ im Westen siegen werden, wenn sie nur lange genug standhaft durchhalten. „Das ist ein Weckruf für die globale dschihadistische Bewegung“, warnt Steinberg.

Sicherheitsexperten fragen sich nun, was die Entwicklung in Afghanistan für mögliche Terroranschläge auf internationale Ziele bedeutet. US-Präsident Joe Biden biegt den US-geführten Einsatz am Hindukusch im Nachhinein zu einer reinen Anti-Terror-Mission um. „Wir sind nach Afghanistan mit dem ausdrücklichen Ziel gegangen, Al-Kaida in Afghanistan loszuwerden und Osama bin Laden zu fassen. Und das haben wir getan“, sagt Biden. „Welches Interesse haben wir jetzt in Afghanistan, wo Al-Kaida (dort) verschwunden ist?“

Ob Al-Kaida tatsächlich aus Afghanistan verschwunden ist, daran gibt es erhebliche Zweifel. In einem Bericht des UN-Sicherheitsrats vom Juni hieß es, das Terrornetz sei in mindestens 15 der 34 afghanischen Provinzen weiterhin präsent. Ein bedeutender Teil der Führung der Organisation sei im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan. Die Taliban beteuern, sie würden weder Al-Kaida noch anderen Gruppen gestatten, von Afghanistan aus Angriffe zu starten. Eine Entwarnung bedeutet das nach Steinbergs Einschätzung aber nicht. 

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