Wie der Ukraine-Krieg enden könnte

Russlands Präsident Wladimir Putin weicht keinen Millimeter zurück, ein rasches Ende des Konflikts scheint in weiter Ferne. Vier führende Militärexperten sagen den weiteren Verlauf der Kämpfe voraus – und entwerfen Szenarien, die wenig tröstlich sind

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Ein ukrainischer Soldat betrachtet die durch einen russischen Angriff zerstörte Nationale Pädagogische Universität in Charkiw. © Evgeniy Maloletka/AP/dpa/ecfr

Während in Deutschland die Sorge vor Gas-Knappheit und weiter ansteigenden Preisen wächst, schwindet die Hoffnung auf ein schnelles Ende des – Ukraine-Krieges. Russlands Präsident Wladimir Putin warnte den Westen vor einer direkten militärischen Konfrontation: „Heute hören wir, dass sie uns auf dem Schlachtfeld schlagen wollen. Was soll man dazu sagen? Sollen sie es nur versuchen.“ Russland habe in der Ukraine noch nicht einmal richtig angefangen, fügte er hinzu. Vier führende Militärexperten prognostizieren im Gespräch mit dieser Redaktion den weiteren Verlauf der Kämpfe. Sie entwerfen verschiedene Szenarien und bewerten dabei auch die Chancen auf Verhandlungen.

„Der russische Präsident Wladimir Putin hat das strategische Ziel ausgegeben, die Ukraine zu ‚entnazifizieren‘ und zu ‚entwaffnen‘. Dieses Ziel wird er für die gesamte Ukraine nicht erreichen. Der Kremlchef hat jedoch die Eskalationsdominanz. Nur Russland kann jeden Tag mehr Artillerie, mehr Panzer, mehr Schiffe und mehr Flugzeuge schicken. Die Ukraine kann hingegen nicht eskalieren. Die ukrainische Armee hat nur die Option, zu verzögern, sich geschickt zu wehren, Raum aufzugeben, dem Angreifer immer wieder Verluste zuzufügen und sich neu zu formieren.

Gemessen an Putins strategischem Ziel reicht ihm die Eroberung des Donbass nicht. Meine Befürchtung: Wenn Putin nicht die gesamte Ukraine bekommt, zielt er auf Dnipro, Saporischja, Cherson und am Ende Odessa ab. Er will die Ukraine vom Wasser abschneiden. Wenn Putin das gelänge, wäre die Ukraine in einer geografisch eingeschlossenen Lage wie Afghanistan. Ich gehe aber davon aus, dass die Ukraine mit westlicher Hilfe Odessa wird halten können.

Die Kämpfe werden mindestens bis Herbst andauern. Im Herbst wirken die Sanktionen gegen Russland besser als heute. Die Ukraine wiederum benötigt noch ein paar Monate, um die westlichen Waffen und die entsprechende Ausbildung zu bekommen. Wenn es die Ukrainer schaffen, hier und da Nadelstiche in die russische Landbrücke im Süden zu setzen und die Versorgung der Russen im Bezirk Donezk immer wieder zu stören, könnte es im Herbst zu einem Wendepunkt kommen. Wenn beide Präsidenten erkennen, dass sie ihre Maximalziele nicht erreichen, könnte dies der Beginn von Verhandlungen sein.

Ein ‚eingefrorener Konflikt‘ läge dann vor, wenn Russland zwar Gebiete besetzt, das Territorium aber trotzdem Teil des ukrainischen Staates bliebe. Die Ukrainer würden dann dort Partisanenangriffe durchführen. Eine ‚Eiszeit‘ zwischen der Ukraine und Russland sowie Europa und Russland würde eintreten, wenn Putin Gebiete aus der Ukraine abschneidet und zum Teil von Russland erklärt. Ich halte dies für das wahrscheinlichste Szenario.“

„Die Russen legen derzeit ihren Fokus auf die urbanen industriellen Schlüsselregionen im Bezirk Donezk. Man muss davon ausgehen, dass es einen Straßen- und Häuserkampf geben wird. Aber ich habe keinen Zweifel, dass die Russen am Ende auch das Gebiet Donezk besetzen und kontrollieren werden. Danach wird es eine operative Pause geben, weil sowohl die russischen als auch die ukrainischen Truppen durch die Kämpfe der letzten Wochen stark abgenutzt sind. Diese Pause könnte die letzte Chance für diplomatische Verhandlungen sein.

Ein Verhandlungskompromiss könnte so aussehen, dass Kiew den Gebieten Donezk und Luhansk weitestgehende Autonomie innerhalb des ukrainischen Staatsverbundes gewährt. Das wäre etwa mit dem Status von Südtirol in Italien vergleichbar. Dafür behielte die Ukraine den für den Außenhandel eminent wichtigen Schwarzmeer-Hafen Odessa. Den Konflikt um die Krim müsste man wegen der strategischen Interessen Russlands einschließlich der Schwarzmeer-Flotte in die Zukunft vertagen.

Wenn die operative Pause verstreicht, könnten die Russen den gesamten Osten der Ukraine bis zum Dnjepr-Fluss besetzten und vollendete Tatsachen schaffen. Die Territorien würden dann sehr wahrscheinlich von Russland einverleibt. Ich schließe nicht aus, dass die Russen versuchen werden, auch Odessa einzunehmen. Dann würde eine Rumpf-Ukraine übrigbleiben, die allein nicht lebensfähig wäre.

Die Kämpfe werden auf jeden Fall noch einige Monate andauern. Was derzeit unkalkulierbar ist: Was passiert, wenn die Russen den EU-Ländern und der Ukraine das Gas abdrehen? Dies hätte Auswirkungen auf die westliche Unterstützung für die Ukraine und den Durchhaltewillen der Ukrainer. Mit mehr westlichen Waffen könnten die Ukrainer in den Modus eines Guerillakrieges wechseln.

Ich glaube nicht, dass Putin die Besetzung der gesamten Ukraine anstrebt. Die Westukraine ist industriell nicht so attraktiv. Darüber hinaus hat die Bevölkerung eine viel stärkere Affinität mit Polen.“

„Nachdem die Russen den Bezirk Luhansk fast vollständig eingenommen haben, werden sie sich mit der gleichen Strategie auf Donezk fokussieren. Es geht ihnen darum, mit der Konzentration von viel Personal und Material kleine Punkte zu erobern. Interessant wird sein, ob die angekündigte Großoffensive der Ukrainer kommt, die nun auf den August verschoben wurde. Ich erwarte, dass sich diese Offensive auf den Süden konzentrieren wird. Die Ukrainer werden punktuell vorgehen und versuchen, die russische Front in die Länge zu ziehen. Das würde ihnen wieder Möglichkeiten für Angriffe im Donbass eröffnen. Sollte den Ukrainern die Munition ausgehen oder die westlichen Waffenlieferungen stocken, werden sie auf eine Partisanentaktik umschalten.

Putin sieht die Eroberung des Donbass als Voraussetzung an, um eine Pause zu bekommen. Er will seine Truppen regenerieren und den Nachschub von Material neu regeln. Danach visiert er den Angriff auf weitere Teile der Ukraine an. Dazu gehört auch die Hauptstadt Kiew. Der Kreml hat gerade noch einmal deutlich gemacht, dass die strategischen Ziele ‚Entnazifizierung‘ und ‚Demilitarisierung‘ nicht vom Tisch sind. Es geht immer noch darum, die Regierung von Wolodymyr Selenskyj durch ein russlandfreundliches Satellitenregime zu ersetzen.

Ich schätze, dass der Krieg in jedem Fall noch Monate dauert. Sollten die Russen irgendwann auch den Bezirk Donezk einnehmen, rechne ich damit, dass Putin Friedensverhandlungen und einen Waffenstillstand anbietet. Es wäre ein taktischer Zug, um Zeit für die Regeneration der russischen Truppen zu bekommen. Die Ukraine wird die Offerte ablehnen.

Dadurch wird der Westen in eine Zwangslage geraten. Wenn es zu einem harten Herbst kommt, weil die Russen die Gas-Lieferungen weiter reduzieren, werden die westlichen Gesellschaften ihre Politiker dazu drängen, die Unterstützung der Ukraine zurückzufahren. Es ist Putins Kalkül, Teile Westeuropas in die Knie zu zwingen.

Ich erwarte im schlimmsten Fall einen sehr heißen Konflikt in der Ukraine: Russische Truppen kämpfen gegen ukrainische Partisanen. Das kann noch Jahre dauern.“

„Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Russland derzeit eine operative Pause eingeht. Die Feuerwalze sucht sich neue Ziele, man greift nun Richtung Slowjansk und Siwersk an. Gleiche Vorgehensweise: viel Artillerie, dann langsames Vorrücken. Derzeit aber ohne Erfolg. Der Raum Slowjansk/Kramatorsk wurde in den letzten acht Jahren sehr stark ausgebaut, es gibt gute Verteidigungsstellungen. Ich schätze, hier werden die Ukrainer die Russen noch einige Zeit festhalten können. Wahrscheinlich sogar bis September/Oktober, wenn die nächste Rotation russischer Truppen notwendig sein wird.

So wie es jetzt läuft, wird sich der Krieg ins nächste Jahr erstrecken. Ich denke, die nächste Tauwetterperiode 2023 ist der früheste Zeitpunkt für ein mögliches Ermatten. Die Personalsituation ist für Russland der entscheidende Faktor. Wenn es nicht gelingt, mehr Soldaten anzuwerben als bisher, wird die Offensivfähigkeit der russischen Streitkräfte im Herbst oder Winter langsam schwinden. Auf ukrainischer Sicht ist das Material das Entscheidende.

Das politische Ziel Russlands, die Ukraine als Ganzes zu vernichten und sich einzuverleiben, steht nach wie vor. Putin geht weiter, bis die Offensivfähigkeit der Armee ermattet ist. Derzeit kann Russland seine Überlegenheit an Feuerkraft ausspielen. Waffenlieferungen aus dem Westen sind in der Qualität gut, aber in der Quantität noch ungenügend. Wenn das so weitergeht, wird es für Russland zwar weiterhin blutig, aber es ist ein langsamer, blutiger Weg zum Sieg.

Es besteht die Möglichkeit, dass beide Parteien etwa gleich ermatten und nicht mehr können. Dann friert die Front ein, bis Putin sich neu aufgestellt und ausgerüstet hat. Niemand würde in der Ukraine investieren oder einen Betrieb aufbauen. Geflüchtete würden nicht zurückkehren. Die Ukraine würde am Tropf der EU hängen, und in drei oder fünf Jahren gäbe es den nächsten Krieg. Da wäre es billiger, den Ukrainern gleich Leopard-Kampfpanzer und Marder-Schützenpanzer zu schicken.“

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