Herr Filatjew, Sie verurteilen den Angriffskrieg in der Ukraine und prangern zudem die Regierung in Moskau an. Wie sicher fühlen Sie sich als russischer Soldat, der sich weigert, an die Front zurückzukehren?
Pawel Filatjew: Ich weiß, dass Regimekritiker gefährlich leben. Das hat die Praxis bereits öfter gezeigt. Aber wissen Sie, ich habe den Krieg überlebt. Ich weiß, dass das Leben gefährlich sein kann. Deswegen sehe ich keinen Sinn darin, mich zu verstecken oder Angst zu haben. Wenn jemand beschließt, mich zu töten, dann wird er einen Weg finden, selbst wenn ich mich zu Hause verbarrikadiere.
Sie haben, als Sie den Flughafen in Paris erreichten, alle Ihre Papiere und Ihren russischen Pass zerrissen. Warum war Ihnen dieser Schritt wichtig?
Filatjew: Ich habe nicht geplant, meine Dokumente zu zerreißen. Aber als ich in Paris gelandet bin, überkam mich eine Wut auf die russische Regierung, die ich nicht zügeln konnte. Ich habe nichts Schlechtes für mein Land getan, ich habe nur die Wahrheit über den Krieg in der Ukraine erzählt. Und trotzdem war ich gezwungen, meine Rechte abzutreten, meine Heimat zu verlassen und ohne Geld oder Freunde in ein Land zu fliehen, dessen Sprache ich nicht mal kann.
Sie waren Teil einer Armee-Einheit, die am 24. Februar die Ukraine überfiel. Sie wollen bis zum Schluss nichts von dem geplanten Angriff gewusst haben. Wie kann das sein?
Filatjew: Als Soldat stellst du keine Fragen, du befolgst Befehle. Als unsere Einheit, die auf der Krim stationiert war, am 20. Februar an die Grenze zur Ukraine verlegt wurde, verstand niemand wirklich, was vor sich geht. Alle rätselten. Am Vortag der Invasion hat der Divisionskommandeur mitgeteilt, dass der Tageslohn ab morgen 69 Dollar betragen würde. Das war ein klares Zeichen dafür, dass etwas Ernstes passieren wird. Aber wir wussten nicht: Gegen wen sollen wir überhaupt kämpfen? Als Soldat lebst du in einem Informationsvakuum.
Wie haben Sie den Einmarsch in die Ukraine erlebt?
Filatjew: Als chaotisch. Der 24. Februar begann für mich um 4 Uhr morgens. Ich schlief in einem Transportwagen und hörte plötzlich Explosionen. Über uns hinweg flogen Kampfflugzeuge, man roch Schießpulver. Aber niemand von uns wusste, mit welchem Ziel wir überhaupt in Bewegung gesetzt wurden. Man hat schnell bemerkt, dass selbst die Kommandeure die Befehle erst kurzfristig erfahren haben. Die meisten schwiegen – in der Hoffnung, die Führung werde schon einen Plan haben.
Sie beschreiben desaströse Zustände in der russischen Armee. Es fehle oft an Ausrüstung, Schlafsäcken und Essen.
Filatjew: An Waffen hat es uns nie gefehlt, davon hatten wir sehr viele. Wir hatten aber tatsächlich wenig Essen und Schlafsäcke dabei, man hat gemerkt, die Logistik hat versagt.
Sie waren dabei, als die russische Seite die Stadt Cherson einnahm. Gab es einen Schlüsselmoment, an dem Sie wussten, dass das, was Sie tun, nicht richtig ist?
Filatjew: Ich wusste gleich vom ersten Tag an, dass alles hier nicht richtig ist. Wir verstanden schnell, dass wir hier ungebetene Gäste sind. Aber es gab tatsächlich einen Moment, der mir nachhaltig in Erinnerung geblieben ist. Ein paar Tage nach dem Überfall mussten ein paar Kameraden und ich nachts abwechselnd Wache halten, um unsere Stellungen zu sichern. Es war unglaublich kalt. So kalt, dass man an nichts anderes mehr denken konnte. Und wir hatten nicht mal Decken oder Schlafsäcke, um uns zu wärmen. Also bin ich auf die Suche nach etwas Brauchbarem gegangen, etwas, womit man sich wärmen könnte. Ich konnte nichts finden, in der Nähe waren jedoch bewohnte Häuser. Ich sah Licht darin. Kurz kam mir der Gedanke, in das Haus zu gehen und eine Decke zu verlangen – und ich fand diesen Gedanken abscheulich. Wenn dort Menschen sind, vielleicht sogar mit Kindern, jage ich ihnen schreckliche Angst ein. Und dafür wollte ich nicht verantwortlich sein.
Waren Sie Zeuge von Kriegsverbrechen, die russische Soldaten begangen haben?
Filatjew: Nein, in den zwei Monaten, in denen ich an der Front war, habe ich keine Kriegsverbrechen mit eigenen Augen gesehen. Man erzählte mir einmal, wie russische Truppen ein ziviles Auto beschossen haben und eine Mutter und ihre Kinder dabei starben. Ich kannte die Schützen aber nicht. Ich hörte auch immer wieder, dass einige die Kälte satt hatten und bereit waren, gleich vom nächstbesten Haus die Scheiben einzuschlagen und reinzugehen. Aber gemacht hat es – zumindest von meiner Einheit – niemand. Ich will nicht, dass der Eindruck entsteht, dass jeder russische Soldat ein Schwerverbrecher ist und sich zum Ziel gemacht hat, einen ukrainischen Bürger zu töten oder zu verletzen. Das ist nämlich nicht wahr.
Es ist schwer, russische Soldaten in Schutz zu nehmen, wenn man solche Verbrechen wie in Butscha oder Irpin gesehen hat.
Filatjew: Nur damit das klar ist: Ich zweifle nicht daran, dass manche der russischen Soldaten schwere Kriegsverbrechen begehen und begangen haben. Es finden sich überall Arschlöcher, die bereit sind, zu töten oder zu vergewaltigen. Und ich hoffe, dass jeder von ihnen zur Rechenschaft gezogen wird. Die russische Führung ist jedoch nicht daran interessiert, die Kriegsverbrechen zu verfolgen oder aufzuklären.
Sie erlitten im Krieg eine schwere Augenverletzung und konnten somit die Front für die Zeit der Behandlung verlassen. Haben Sie da den Beschluss gefasst, zu desertieren?
Filatjew: Ich würde mich nicht als Deserteur bezeichnen. Wenn ich mitten im Einsatz die Waffe fallen gelassen hätte und weggelaufen wäre, dann wäre ich ein Deserteur. Ich wurde von der Front aufgrund meiner schweren Augenverletzung evakuiert. Ich bin daran fast erblindet. Nach der Behandlung habe ich mit allen legalen Mitteln versucht, die Armee zu verlassen. Doch die Regierung verweigerte es mir und lehnte ab, für meine Behandlung finanziell aufzukommen. Schnell wurde mir mit Haft gedroht, sollte ich nicht an die Front zurückkehren. Da wusste ich, dass ich andere Wege gehen muss, um mein Leben zu retten.
Sie haben Ihre Erlebnisse dokumentiert und bereits online auf russischen Seiten veröffentlicht. Trotzdem blieb der Aufschrei in Russland aus. Wie erklären Sie sich diese schweigenden Massen?
Filatjew: Natürlich bin ich enttäuscht darüber, dass meine Erzählungen nicht das ausgelöst haben, was ich erhofft habe. Es gab keine Welle der Entrüstung in Russland, die Soldaten haben nicht protestiert. Aber Fakt ist, Repression und totalitäre Propaganda sind die einzigen Herrschaftsinstrumente, mit denen das russische Regime jetzt noch Stabilität gewährleisten kann. Viele Leute haben Angst, nicht nur um sich, aber auch um ihre Familien, etwas zu sagen oder aufzubegehren. Viele vertrauen aber auch der russischen Führung, weil sie der Propaganda glauben und schlichtweg nichts hinterfragen wollen, weil es bequem ist.
Wie schwer war es für Sie, Russland zu verlassen?
Filatjew: Sehr schwer. Nachdem ich meine Erlebnisse veröffentlicht habe, war mir klar, dass ich jederzeit verhaftet werden kann. Zudem wusste ich, dass man mich im Gefängnis zwingen könnte, meine Aussagen über den Krieg zurückzunehmen, oder mich an die Front zurückzuschicken. Ich wollte aber Russland eigentlich nicht verlassen. Also habe ich mich die ersten Wochen schlichtweg versteckt, habe immer an verschiedenen Orten geschlafen. Bis mein Geld aufgebraucht war. Eine Menschenrechtsorganisation, die mich unterstützt, hat mich schließlich dazu gedrängt, das Land zu verlassen. Zuerst flog ich nach Tunesien. Schließlich entschied ich mich dafür, in Frankreich politsches Asyl zu beantragen. Am 14. Dezember wird darüber entschieden, ob ich bleiben darf.
Was glauben Sie, wie lange dieser Krieg noch gehen wird?
Filatjew: Ich denke, der Krieg wird noch sehr lange dauern. Ich kann mir vorstellen, dass es noch jahrelang so gehen wird. Solange Putin an der Macht ist, wird es Kämpfe in der Ukraine geben. Es braucht einen Machtwechsel in Moskau. Aber wie soll das gehen? Putin regiert wie ein Zar. Es gibt keine Hoffnung, dass ihn jemand abwählen kann.
Nach Frankreich geflohen
Pawel Filatjew (34) entstammt einer Familie mit militärischer Tradition, er wuchs in einer südrussischen Stadt auf.
Als Fallschirmjäger überfiel er mit seinem Regiment am 24. Februar die Ukraine.
Nach zwei Monaten wurde er verwundet, im Lazarett schrieb er seine Erlebnisse auf, veröffentlichte sie im Internet und floh nach Frankreich.
Am Sonnabend erscheint sein Buch „Zov – Der verbotene Bericht“ (Hoffmann und Campe).
Filatjew lebt heute versteckt nahe Paris. red
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