Bixente Lizarazu hat immer noch recht. Der langjährige Linksverteidiger von Bayern München und der französischen Nationalmannschaft wurde während seiner achteinhalb Jahre beim Rekordmeister mal nach seinem fußballerischen Gesamtkonzept befragt und antwortete so schlicht wie richtig auf Denglisch: „You have to win Zweikampf.“
Antonio Rüdiger, aktueller Verteidiger der deutschen Nationalmannschaft, brachte das nach dem glücklichen 3:3 gegen die Ukraine erneut so auf den Punkt: „Du musst Zweikämpfe gewinnen.“ Der Profi von Real Madrid band seine Forderung - anders als Lizarazu damals - jedoch in eine umfangreiche Fehleranalyse seiner Mannschaft ein. Die Partie gegen die Ukraine sollte eigentlich Aufbruchstimmung erzeugen. Stattdessen wird die Mängelliste immer länger.
Katastrophales Abwehrverhalten
Im Benefizspiel präsentierte sich die Nationalmannschaft in der Offensive nach einem guten Start weitestgehend uninspiriert. Das wäre aus Sicht von Abwehrspieler Rüdiger wohl noch irgendwie zu verzeihen gewesen - vor allem, weil die DFB-Elf ja dank des frühen Treffers von Werder Bremens Stürmer Niclas Füllkrug („Heute wurde ich angeschossen, das sind eigentlich die schönsten Stürmertore“) in Führung gegangen war.
Stellenweise katastrophal war hingegen das Abwehrverhalten der deutschen Mannschaft. Schon zur Halbzeit war das Spiel durch die Treffer von Viktor Tsygankov (18.) und Rüdigers Eigentor (23.) gedreht. Nahezu jeder Konter der Ukrainer strahlte Gefahr aus. Dazu kamen Patzer wie der Stockfehler von Matthias Ginter, der das 1:3 durch Tsygankov einleitete (56.). Rüdigers Fazit: „Alle Tore haben wir denen geschenkt.“ Wie schon beim 2:3 gegen Belgien klingelte es dreimal im deutschen Kasten - und das gegen einen Gegner, der mitnichten zur Weltspitze gehört.
Dreierkette auch gegen Polen
Bundestrainer Hansi Flick reagierte nach dem dritten Gegentor. Er verließ die Dreierkette und stellte auf ein 4-3-3 um. Defensiv wurde es zwar besser - im Angriff fehlten aber weiterhin die zündenden Ideen. Bezeichnend, dass der späte Anschlusstreffer aus einem langen Ball von Rüdiger auf Kai Havertz resultierte (83.). Havertz war es auch, der den Elfmeter herausholte, den Kimmich zum späten Ausgleich nutzte (90.+1).
Als gescheitert will Flick die Dreierkette aber nicht betrachten und sie in den Spielen in Polen am Freitag sowie gegen Kolumbien am kommenden Dienstag wieder einsetzen. Fast flehentlich verteidigte Flick auf der Pressekonferenz nach dem Spiel sein Vorgehen. „Wir haben trainiert und sind nach den Trainingsleistungen gegangen. Da hat es funktioniert. Das müsst ihr mir abnehmen, auch wenn ihr es nicht sehen könnt“, sagte er in Richtung der Journalisten, die das nicht öffentliche Training nicht verfolgen konnten. Wichtig sei es, mehrere Systeme spielen zu können - deswegen werde am Vorgehen nichts geändert.
Füllkrugs starke Torquote
Die Geduld des Publikums mit der Nationalmannschaft scheint aber stellenweise erschöpft zu sein. Zwischenzeitlich pfiffen die Fans im Bremer Weserstadion die deutsche Auswahl aus und riefen nach dem SV Werder, der sonst in dem Stadion zu sehen ist. Füllkrug, der einzige Bremer Spieler, landete nach Schlusspfiff noch einen humorvollen Treffer. Als er auf die Pfiffe angesprochen wurde, sagte er: „Das Bremer Publikum ist halt qualitativ sehr hochwertigen Fußball gewohnt. Deswegen kamen da wahrscheinlich auch ein paar Pfiffe.“
Füllkrug kann sich die gute Laune am ehesten noch leisten. In seinem siebten Länderspiel markierte er den siebten Treffer. Auch sein Fazit fällt aber durchwachsen aus angesichts von fast 70 Prozent Ballbesitz, aus dem aber nur wenig heraussprang: „Wir haben das Spiel dominiert, aber nicht kontrolliert.“
Weit vom Anspruch entfernt
Flick betonte immer wieder, dass es mit seiner Mannschaft eben eine Entwicklung sei. Dass es um Abläufe geht, die einstudiert werden müssen. Die Zeit drängt jedoch. In einem Jahr startet schon die Heim-Europameisterschaft.
Philipp Lahm, der Chef des Organisationskomitees, hatte kürzlich die sportliche Vorgabe gegeben und Flick in die Pflicht genommen: „Wir wollen als Gastgeber wochenlang auftreten wie ein Europameister.“ Von diesem Anspruch ist die Nationalelf derzeit weit entfernt. Derzeit geht es eben eher darum, auch mal wieder mehr Zweikämpfe zu gewinnen.
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