Mannheim. Herr Rohr, hatten Sie die Hoffnung schon aufgegeben, dass mal ein afrikanisches Team ein WM-Halbfinale erreicht?
Gernot Rohr: Eigentlich nicht. Wie damals beim Mauerfall 1989 in Deutschland: Es gibt immer wieder Überraschungen im Leben. Für Länder, in denen seit vielen Jahren eine gute Fußball-Infrastruktur herrscht - davon gibt es in Afrika nicht viele Länder - konnte man so etwas erhoffen.
Haben Sie sich für Marokko gefreut?
Rohr: Ja. Die defensive Stärke und taktische Disziplin dieser Mannschaft stechen hervor, dazu kommen einige überragende Einzelspieler, die wie Achraf Hakimi in großen Clubs wie Paris Saint-Germain spielen. Klar, mit Yassine Bounou haben sie einen überragenden Torwart, der Spiele entscheiden kann - wie Hugo Lloris bei Frankreich. Aber ganz wichtig ist die professionelle Organisation des Fußballs, die viel besser ist als in anderen afrikanischen Ländern. Das gilt auch für die heimische Meisterschaft.
Das marokkanische Team wirkt sehr europäisch, auch der französische Einfluss prägt dieses Team …
Rohr: …und insbesondere den Trainer. Walid Regragui hat als Spieler zum Ende seiner Karriere noch mit Olivier Giroud zusammengespielt. Er ist geprägt vom französischen Fußball. Es ist schon immer eine große Verbindung da gewesen, es arbeiten viele Trainer aus Frankreich in Marokko, das davon profitiert.
Trifft die Equipe Tricolore also auf eine Filiale?
Rohr: Das könnte man fast so sagen. In Marokko wird das vielleicht nicht gerne gehört, aber ein positiver französischer Einfluss ist im Fußball auf jeden Fall vorhanden. Natürlich gibt es zwischen Frankreich und den ehemaligen Protektoraten gewisse Spannungen, aber mein Eindruck ist, dass die Beziehung zu Marokko besser ist als zu Tunesien oder Algerien.
Wie gefällt Ihnen die französische Nationalmannschaft?
Rohr: Spektakulär zu spielen ist heute immer schwieriger geworden, weil alle Nationalteams für eine WM gut vorbereitet und organisiert sind. Letztlich geht es um den Erfolg. Die Engländer hatte es im Viertelfinale geschafft, Kylian Mbappé fast aus dem Spiel zu nehmen, dafür mussten sich andere zeigen. Didier Deschamps ist mit seinem Vertrauen in Olivier Giroud mit seinen 36 Jahren eine Wette eingegangen, die er gewonnen hat - das spricht für den Trainer. Antoine Griezmann in seiner neuen Rolle als Spielmacher macht es auch hervorragend. Insgesamt gibt es eigentlich wenig Änderungen gegenüber 2018.
Für wen sind Sie in diesem Halbfinale?
Rohr: Ich drücke den Franzosen die Daumen, sie sind auch für mich der Favorit. Letzten Endes bin ich Franzose. Aber wenn Marokko gewinnen sollte, freue ich mich mit, denn sie haben die ganze arabische Welt in dem Stadion hinter sich. Die Franzosen spielen gegen eine Wand. Die Unterstützung für Marokko ist einmalig. Nicht nur ganz Afrika, sondern selbst Länder wie Syrien stehen jetzt hinter dieser Mannschaft.
Warum ist Marokko beispielsweise weiter als Nigeria, wo sie bis vor einem Jahr noch gearbeitet haben?
Rohr: Eine mangelhafte Infrastruktur und schlechte Ausbildung ist das Problem in solchen Ländern. Das zeigt sich in schlechten Bedingungen, heruntergekommenen Rasenplätzen oder verwahrlosten Stadien. Ich habe das in Lagos mit seinen 19 Millionen Einwohnern selbst erlebt. Die schlechte Organisation der eigenen Meisterschaft mit ständigen Unterbrechungen war in Nigeria ebenfalls ein Problem. Die meisten Vereine hatten nicht mal eine Jugendabteilung, obwohl so viele Fußball spielen. Alles lief über private Akademien, die mit der Ausbildung von Talenten schnelles Geld verdienen wollten.
Marokko kann also auch in dieser Hinsicht Vorbild sein?
Rohr: Sie waren es schon in der Pandemie, denn wir sind mit Nigerias Nationalelf dorthin geflogen, um das WM-Qualifikationsspiel gegen Liberia im November 2021 in Tanger in Marokko auszutragen (einen Monat später wurde Rohr kurz vor dem Afrika-Cup entlassen, Anm. d. Red.).
Zur WM 2026 wird die Zahl der afrikanischen Startplätze von fünf auf neun erhöht. Ein richtiges Signal?
Rohr: Für Afrika ist das ein Segen und eine Motivation - aber auch eine Verpflichtung, noch mehr zu tun. Die Verbände müssen mehr arbeiten, um seriöse Entscheidungen zu treffen. Ich habe es am eigenen Leib erlebt, dass es daran fehlt. Marokko hat einen guten Verbandspräsidenten, der seit Jahren wichtige Weichen gestellt hat. Ich hoffe, dass andere Länder nachziehen.
Marokko hatte seinen Hut als WM-Ausrichter für 2026 in den Ring geworfen, unterlag in der Abstimmung dann aber deutlich der Dreifachbewerbung USA, Kanada und Mexiko. Würden Sie eine erneute Bewerbung empfehlen?
Rohr: Sie wurden als Kandidat von einigen völlig zu Unrecht ausgelacht, die nicht die guten Strukturen kannten. Durch die Aufstockung auf 48 Teams wird es wahrscheinlich alleine schwierig. Man wird sich da schon zusammentun müssen, die nächste WM wird ja nicht umsonst in drei Ländern ausgetragen.
Eine WM mit 48 Teams verteilt auf 16 Städte in drei Ländern wird das Kontrastprogramm zu Katar mit seinen kurzen Wegen. Was haben Sie aus ihrem Besuch in Doha von einer Weltmeisterschaft mitgenommen, die in Europa so umstritten ist?
Rohr: Kritik kam nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Frankreich! Nur ist von vielen Absichtserklärungen hier, man würde sich die WM nicht anschauen, kaum mehr etwas übrig geblieben. Interessant fand ich, dass man zuletzt beim Kabinenbesuch von Frankreichs Sportministerin Roxana Maracineanu bei einer Umarmung von Giroud sah, dass sie was in Regenbogenfarben angezogen hatte.
Kein wichtiges Signal?
Rohr: Ich bin dort für den Fußball hingefahren, und dafür war alles hervorragend organisiert, auch wenn die Reise für uns echt teuer war. Aber am Ende war es ein Erlebnis und auch die Kinder waren glücklich. Was ich bedauert habe, war das Drumherum um die deutsche Mannschaft. Wirklich schade. Die Geste mit der Hand vor dem Mund haben selbst in Frankreich nur einige wenige bewundert. Das wurde in Katar sehr schlecht aufgenommen. Dem deutschen Ansehen hat das geschadet, und die Leistung der Mannschaft war dann ja auch nicht gut. Die deutsche Geste war ein Eigentor, dazu gab es auch entsprechende Karikaturen hier.
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