Paris. Ahmed steht entspannt an der Theke in einem Bistro im 15. Pariser Arrondissement. Der Taxifahrer trinkt einen Kaffee und sucht sofort Kontakt, hat Lust auf einen Smalltalk. Und vor allem auch Zeit. Was in seinem konkreten Fall und für ihn ganz persönlich allerdings nichts Gutes bedeutet. Zumindest in finanzieller Hinsicht. „Millionen Menschen sind in der Stadt, aber kaum einer fährt Taxi. Ich habe keine Arbeit. Das habe ich noch nie erlebt“, schimpft der 54-Jährige und zeigt mit der ausgestreckten rechten Hand auf sein parkendes Auto, das direkt vor dem Bistro steht. Es ist keine wütende Geste, aber eben doch eine, mit der er seinen Ärger unterstreichen will. „Leer, leer, mein Wagen ist einfach leer. Ich stehe hier seit einer Stunde und nichts passiert.“
Keine Fahrgäste. Keine Kohle. So geht das nun schon seit eineinhalb Wochen. Weshalb außer Frage steht, dass der gebürtige Marokkaner nicht zu den Profiteuren dieser Spiele gehört: „Von Olympia halte ich nichts, gar nichts, null. Hoffentlich ist dieser Spuk bald vorbei.“
Beachvolleyball-Duo entspannt mit der Metro zum Wettkampf
Dieser „Spuk“ ist für andere hingegen ein riesiger Spaß, vielleicht sogar das größte Fest der Sportgeschichte. Wahre Menschenmassen tummeln sich in der französischen Hauptstadt. Die Metropole ist voll, aber es herrscht gewiss kein Chaos. Nicht in der Innenstadt und nicht in der Metro, die übrigens auch von den deutschen Beachvolleyballstars Clemens Wickler und Nils Ehlers auf der Anreise zu ihren Wettkämpfen genutzt wird.
„Für uns ist das die einfachste Lösung“, sagt Wickler, als er entspannt in der Bahn steht. Gerade einmal zwei Stunden sind es für ihn und seinen Partner zu diesem Zeitpunkt noch bis zu ihrem Viertelfinalspiel. Das nennt man dann wohl Volksnähe.
Ein großes Fanfest vor historischer Kulisse im Herzen Frankreichs
Paris zeigt sich also von seiner besten Seite. Dabei hatte Bürgermeisterin Anne Hidalgo noch im November gesagt, dass ihre Stadt für den Ansturm „nicht bereit“ sein werde. Ihre Befürchtung bestätigte sich allerdings nicht. Stattdessen erlebt sie eine XXL-Feier in der Stadt. Und zwar rund um die Uhr. Viel erinnert an den Enthusiasmus beim deutschen Fußball-Sommermärchen rund um WM 2006.
Die Touristen kommen aus der ganzen Welt, schwenken Fahnen, tragen Trikots, tauschen Fan-Utensilien. Sie bevölkern an jedem Abend die Fläche vor dem Louvre, wenn beim Einbruch der Dunkelheit das olympische Feuer nebenan im Jardin des Tuileries mit einem Ballon in den Himmel steigt. Das hat etwas Ansteckendes. Es sorgt für Euphorie. Und Gänsehaut.
Keine Frage: In magischen Momenten wie diesen zeigt sich Paris mit all seinen historischen Gebäuden und seiner großen Geschichte als durch und durch lebendige Stadt und nicht als Museum. Oder anders ausgedrückt: Die Metropole dient als Location für eine Dauer-Party, für ein friedliches und verbindendes Fest der Völkerverständigung. Was dem ursprünglichen Sinn und den Idealen der olympischen Idee entspricht.
Frankreich als große Sportnation, alles wirkt echt
Zur einzigartigen Atmosphäre tragen bisweilen sogar die Sicherheitskräfte bei. So wie vor dem Yves-Du-Monoir-Stadion: Als die stets bestens gelaunten niederländischen Fans die Arena verließen, dröhnte der Partykracher „Links Rechts“ aus einem der gepanzerten Polizeiwagen. Und schon hüpften die Anhänger - wie schon bei der Fußball-EM in Deutschland vor wenigen Monaten - hin und her.
In Parks stehen Großbildleinwände, auf denen die Wettkämpfe gezeigt werden. Und auch in fast allen Bars, Cafés oder Restaurants kann man sich sicher sein: Irgendwo läuft ein Fernseher, um gemütlich bei einem Glas Wein oder einer Tasse Kaffee mit französischer Gelassenheit die Wettbewerbe zu verfolgen. Frankreich präsentiert sich in diesen Tagen zweifelsohne als grandioser Gastgeber und große Sportnation. Alles fühlt sich nicht als Inszenierung, sondern wahrhaft authentisch an. Die Spiele werden gelebt - wenn auch nicht von jedem.
Spiele im Herzen der Hauptstadt mit Folgen für den Verkehr
Auf der Rue de Vaugirard in der Nähe des Bahnhofs Montparnasse ist plötzlich eine große Gruppe Schweizer unterwegs. Sie tragen rote Shirts mit weißen Kreuzen, haben sich Fahrräder geliehen und klingeln gut gelaunt mit ihren Kuhglocken. Für die Menschen in den umliegenden Cafés sind sie eine Attraktion, ein Hingucker. Und klar ist ebenfalls: Auch sie werden wohl nicht mit Ahmed und seinem Taxi fahren. Was letztlich aber eine gute Idee ist. Vor allem im Stadtzentrum.
Am Seine-Ufer zwischen Eiffelturm und Place du Trocadéro sind die sonst viel befahrenen Straßen gesperrt. Eine wichtige Verkehrsader im Herzen der Hauptstadt wurde für die Spiele stillgelegt. Auch ein wenig weiter am Place de la Concorde geht nichts mehr. Auf dem großen Platz stehen gleich mehrere Sportstätten aus Stahlrohrtribünen. Die Wettbewerbe im BMX Freestyle, 3x3-Basketball, Breakdance und Skateboard wurden hier ausgetragen. In der Mitte, gut sichtbar: der 23,5 Meter hohe Obelisk von Luxor. Olympische Wettkämpfe an historischen Plätzen - das versprüht seinen ganz eigenen Charme. Und sorgt für ein besonderes Flair.
Nicolas kann damit allerdings nicht so viel anfangen. Er blickt rational auf die Spiele. Vor 66 Jahren wurde er in Paris geboren, er kennt seine Stadt in- und auswendig - und nennt Olympia „einen Alptraum“. Im netten „Au Roi du Café“ lädt er auf einen Kaffee ein. Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zum weltberühmten Eiffelturm. Eher unfreiwillig erfüllt Nicolas beim netten Plausch am Morgen ein paar französische Klischees. Er raucht genüsslich eine Zigarette und verrät, „viel und gerne Zeit in Bars“ zu verbringen. „Ich liebe es, Kaffee zu trinken und Zeitungen zu lesen.“
Preissteigerung ist ein großes Thema - vieles wurde teurer
Seine Mutter wohnt ganz in der Nähe, er lebt allerdings im Norden und arbeitet im Nordwesten der Stadt. Überall seien die Straßen gesperrt, vor allem je näher es in Richtung Zentrum gehe, klagt der 66-Jährige: „Normalerweise fahre ich 120 Kilometer in der Woche. Jetzt sind es 500 Kilometer, weil ich ständig ausweichen und Umwege fahren muss. Ich bin wirklich froh, wenn die Spiele vorbei sind. Denn dann kann ich endlich wieder die Wege nehmen, die ich nehmen will.“
Außerdem hat er noch eine zweite Hoffnung. Nicolas mutmaßt mit einem leichten Grinsen, dass der Espresso in den Cafés nach Olympia wieder preiswerter wird: „Vor den Spielen habe ich hier zwei Euro bezahlt. Jetzt drei. Was soll das?“
Besucherrekord wird erwartet
Preissteigerung ist ein großes Thema. Auch bei den Metro-Tickets. Ende des vergangenen Jahres kostete eine Einzelfahrkarte nur etwas mehr als zwei Euro, jetzt sind es vier. Darüber ärgert sich Nicolas: „Olympia ist eine große Gelddruckmaschine.“ Von der er wenig hält. Auch weil es eher die Spiele für die Touristen und nicht für die Pariser seien, wie er meint: „Jeder in meinem Büro hat versucht, Eintrittskarten zu bekommen. Aber das ist zu vernünftigen Preisen schlichtweg unmöglich. Für dieses Geld kann man sich ein neues Fahrrad leisten.“
Er bleibt also zu Hause. Bis zum Ende der Spiele sollen nach Angaben der Organisatoren aber trotzdem 13 Millionen Tickets verkauft werden. Der bisherige Rekord lag bei 8,3 Millionen Karten bei den Spielen 1996 in Atlanta. Olympia in Paris wird also mit einem Besucherrekord enden - und den kritischen Stimmen zum Trotz als großer Erfolg in die Geschichte eingehen. Denn die weltweite Bewunderung ist grenzenlos.
Schon die Eröffnungszeremonie stellte alles in den Schatten, was es jemals zuvor gab. Dazu die eindrucksvollen Wettkampfstätten: Nicht nur am Place de la Concorde hat Olympia ein Zuhause. Unter dem Eiffelturm wird Beachvolleyball gespielt, das Schloss Versailles diente als imposante Kulisse für die Reitwettbewerbe. Und überall stehen die Sportler im Mittelpunkt. Ob bei Sieg oder Niederlage. Der 42-jährige indische Tischtennisspieler Achanta Sharath Kamal wurde vermutlich noch nie so gefeiert wie in Paris, als er zwar gegen den chinesischen Fünffachweltmeister Fan Zhendong verlor, ihm aber immerhin einen Satz abnahm.
Obdachlose wurden vertrieben - kehren sie nun zurück?
Nicolas interessiert das alles jedoch nicht. Er schaut sich die Spiele noch nicht einmal im Fernsehen an, gibt aber immerhin zu, dass sich Paris herausgeputzt habe. Was auch nur allzu offensichtlich und für jedermann erkennbar ist. Die Bürgersteige sind sauber, die Grünanlagen gepflegt.
„Viele Gebäude wurden gestrichen, es sind Parks entstanden. Paris profitiert sehr von den Olympia“, schwärmt Grazyna. Die gebürtige Polin lebt seit 30 Jahren in der französischen Hauptstadt und verbindet mit den Spielen eine Art des Aufbruchs: „Paris ist aufgewacht. Es wurden Dinge gemacht, die man schon vor 20 Jahren hätte tun sollen. Aber das ist typisch für die Franzosen“, sagt die 70-Jährige und lacht: „Alle wussten, dass man etwas machen muss. Aber es brauchte erst die Olympischen Spiele, um auch wirklich loszulegen.“
Neue Spielplätze und Parks sind entstanden, doch was bleibt noch?
Grazyna sieht in den Spielen einen großen Gewinn für die Stadt. Es sei außerdem „unfair“, im Ausland so viel über die Wasserqualität der Seine zu sprechen: „Olympia ist großartig.“ Auch weil die Spiele die Infrastruktur verbessert haben.
In den vergangenen Jahren und Monaten entstanden neue Spielplätze und Parks. Ecken und Plätze wurden aufgehübscht. Doch wird das auch so bleiben? Oder geht mit dem Erlöschen der olympischen Flamme am Sonntag auch das Ende einer möglicherweise künstlich geschaffenen Scheinwelt einher?
Die sozialen Probleme auftgrund des teuren Wohnraums bleiben
Vor den Spielen zelteten Obdachlose unterhalb der überirdischen Metrolinie am Boulevard Garibaldi. Sie wurden vertrieben, um das Bild von der sauberen Stadt aufrechtzuerhalten. Man findet sie nun nachts vereinzelt in den Nebenstraßen. Doch die Ärmsten der Armen - von denen es im Großraum Paris angeblich mehr als 100 000 gibt - werden vermutlich zurückkehren, wenn sich der Olympia-Trubel gelegt hat und die Polizeipräsenz auf ein Normalmaß gesunken ist.
Es bleiben also Ungewissheit und Zweifel. Denn die französische Metropole wird durch die Spiele zwar grüner und umweltfreundlicher, aber auch wirklich sozialer? Paris ist dicht besiedelt und teuer, der Wohnraum entsprechend knapp. Wo bleiben wir? Wo schlafen wir? Fragen wie diese stellen sich nicht nur Einzelne, sondern ganze Familien. Soziale Ausgrenzung war vor den Spielen ein großes Thema. Und wird es vermutlich auch bleiben.
An dem einen oder anderen Ort wird das Olympia-Erbe aber schon jetzt sichtbar. Auch in sozialer Hinsicht. Im Rahmen des Olympia-Programms „5000 Felder für Frankreich“ wurden überall im Land neue Sportplätze gebaut. In Saint-Ouen-sur-Seine nördlich von Paris entstand ein Basketballfeld, zur Einweihung kam Tommie Smith. Der Platz trägt jetzt sogar seinen Namen.
Große politische Unsicherheit nach Neuwahlen
Der US-amerikanische Leichtathlet erlangte nach seinem Olympiasieg 1968 Berühmtheit. Er und sein Teamkollege Carlos streckten damals während der Siegerehrung für ihren Erfolg im 200-Meter-Lauf die schwarzbehandschuhte Faust nach oben, um gegen die Diskriminierung der afroamerikanischen Bevölkerung zu protestieren.
56 Jahre später ist die gesellschaftliche Situation in Frankreich ebenfalls problematisch. Einwanderung ist ein großes Thema und von Spaltung ist die Rede. Es herrscht eine Zeit der politischen Unsicherheit nach den Neuwahlen Ende Juni, bei denen die Rechtsextremen mehr Abgeordnetensitze als jemals zuvor erhielten. Die Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung sind unklar, Präsident Emmanuel Macron stehen schwierige Zeiten bevor. Schon ab Montag, wenn der Olympia-Glanz verflogen und der Alltag zurück in der Hauptstadt ist.
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