Leichtathletik

Drama im Zehnkampf: Kaul krönt sich zum König von München

Der Mainzer Zehnkämpfer Niklas Kaul krönt bei der Leichtathletik-EM in München eine irre Aufholjagd mit dem nicht mehr für möglich gehaltenen Titel

Von 
Christian Rotter
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Da kann man seine Freude schon mal rausschreien: In den letzten beiden Disziplinen holte Niklas Kaul einen 520-Punkte-Rückstand auf. © Sven Hoppe

München. Niklas Kaul schleppte sich nur noch von Disziplin zu Disziplin. Eigentlich – so war allen klar – ist am zweiten Tag des Zehnkampfs seine Zeit gekommen. Er liebt es, das Feld von hinten aufzurollen, dann da zu sein, wenn bei den Kontrahenten die Kräfte anfangen zu schwinden. Diesmal schwamm er jedoch nur so mit, der Wettkampf im Olympiastadion schien am 24-jährigen Mainzer völlig vorbeizulaufen. Wenige Stunden, nachdem er den Titel bereits abgeschrieben hatte, krönte sich Kaul zum gefeierten König von München.

„Nach dem missratenen Diskuswerfen war ich am Tiefpunkt. Nach den 41,80 Metern war für mich eigentlich klar, dass Gold weg ist“, betonte der Überraschungsweltmeister von Doha 2019. Dieser Eindruck sollte sich im Stabhochsprung bestätigen, 4,90 Meter – wieder genügte er den eigenen Ansprüchen nicht. Und so ging Kaul in die Mittagspause, in der er einen Entschluss fasste: Auch wenn der Titel futsch war, so wollte er doch das Publikum begeistern: „In den letzten beiden Disziplinen wollte ich den Zuschauern noch einmal eine Show bieten, denn die hatten sich das echt verdient.“ Mit 40 000 Leichtathletik-Fans war das Olympiastadion prächtig gefüllt, die Welle schwappte durch das weite Rund. Bis zum letzten Versuch des Speerwerfens gingen alle davon aus, Kaul vielleicht noch zu einem Podestplatz treiben zu können. Doch sie irrten sich. Und sie waren froh, dass sie sich irrten.

Wende beim Speerwerfen

Klar, in Erinnerung wird vor allem Kauls fulminanter 1500-Meter-Lauf bleiben, mit dem er dem Schweizer Simon Ehammer noch die sicher geglaubte Goldmedaille stibitzte. Er legte den Grundstein für die fulminante Aufholjagd allerdings in der vorletzten Disziplin. „Ich glaube, man hat es mir beim Speerwurf angemerkt, dass mir ein ganz schöner Stein vom Herzen gefallen ist – unabhängig davon, dass ich damit wieder eine Chance auf den Titel hatte“, sagte Kaul über den Wurf, der erst bei 76,05 Metern landete.

Der Mainzer hatte damit einen Großteil seines Rückstands wettgemacht, als Dritter in der Gesamtwertung startete er in die dreieinhalb Stadionrunden, die den geschundenen Körpern der Zehnkämpfer noch einmal alles abverlangen. Kaul übernahm nach 600 Metern die Führung, sein Vorsprung auf Ehammer wuchs und wuchs. Und der Kraftakt sollte tatsächlich belohnt werden. Nach der persönlichen Bestleistung über 1500 Meter (4:10,04 Minuten) hatte der 24-Jährige 8545 Punkte auf dem Konto – und damit 77 Zähler mehr als der Schweizer (8468).

„Auf der letzten Runde sind mir fast die Ohren weggeflogen“, sagte Kaul über die frenetische Stimmung, die ihn fast schon ins Ziel fliegen ließ. „Dieser Abend wird für immer einen ganz, ganz speziellen Platz in meinem Herzen haben. Für mich ist dieser EM-Titel emotionaler als das WM-Gold vor drei Jahren.“

Ein schwieriger Weg zurück

2019 in Doha ging Kaul als Niemand an den Start und überrumpelte als bisher jüngster Weltmeister alle. In München waren die Erwartungen größer – und das, obwohl der Weg, den er seit seinem bisherigen Karrierehöhepunkt bis zur Heim-EM zurücklegen musste, mit Stolpersteinen gepflastert war: Erst musste er eine langwierige Schulterverletzung bewältigen und dann bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio das vorzeitige Aus nach einer Sprunggelenksverletzung verkraften. Auch 2022 verlief holprig. Bei der WM in Eugene (USA) konnte er im Juli nur dank einer Wildcard antreten und wurde Sechster.

Kaul setzte alle Hoffnungen in die EM, die für ihn seit der Olympia-Enttäuschung wie ein Leuchtturm gewesen war. „Der Gedanke an München hat mich aus meinem Loch herausgezogen“, betonte er. „Jetzt fühle ich mich nach einer Phase, in der es für mich nicht so gelaufen ist, in meinem Weg bestätigt.“

Wohin dieser noch führen soll? Olympia 2024 soll für Kaul der Karrierehöhepunkt werden. „Bis dahin sind es noch zwei Jahre, und ich werde alles geben, um in einer noch besseren Form anzureisen als in Doha und in München“, sprach er Worte aus, die wie eine Kampfansage klangen. Und dann machte er sich auf zum Feiern, mit seinen Teamkollegen und vor allem mit Artur Abele, der seine Karriere mit dem wohl nervenaufreibendsten Zehnkampf beendete.

Redaktion Koordinator der Sportredaktion

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