Interview

Heidelberger Turnerin Elisabeth Seitz - so überwand sie ihre Zweifel

2022 war für die Heidelberger Turnerin Elisabeth Seitz das erfolgreichste Jahr ihrer Karriere. Im Interview erzählt sie von ihren Zweifeln, der Willenskraft und die herausragende Mentalität ihres Bruders

Von 
Jörg Runde
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Elisabeth Seitz will sich ihre Lockerheit bewahren. © dpa/Marijan Murat

Mannheim. Frau Seitz, mit welchen Gefühlen schauen Sie auf die vergangenen zwölf Monate?

Elisabeth Seitz: 2022 war für mich schon ein sehr besonderes Jahr. Nach Olympia in Tokio habe ich bis Anfang dieses Jahres eine lange Pause eingelegt. Ich habe in der Zeit kaum trainiert und mir stattdessen Gedanken gemacht, wie es weitergeht und ob es überhaupt weitergeht mit dem Sport. Und dann habe ich mich entschieden, dass es weitergeht, aber eben in kleinen Schritten, mit weniger Druck und weniger Stress. Ich bin also mental sehr entspannt in das Jahr gestartet.

Die European Championships in München waren also eigentlich gar kein Ziel?

Seitz: Ich habe schon gedacht, da wäre ich gerne dabei. Aber ich wollte mir die Ziele nicht zu hoch setzen. Und so bin ich mit der Einstellung ran, wenn es klappt, klappt es. Auf jeden Fall wollte ich auf meinen Körper hören und in meinem hohen Turnalter keine Verletzung riskieren. Und so habe ich einiges anders gemacht als in den Jahren zuvor.

Was konkret haben Sie verändert?

Seitz: Ich habe eigene Pläne gemacht, habe meinen Trainingsumfang reduziert und mich auf den Sprung und den Barren konzentriert. Als ich mich für die European Championships in München qualifiziert hatte, war ich schon glücklich. Und das Event selber wollte ich einfach nur genießen ohne Druck und Platzierungsdenken.

Elisabeth Seitz

  • Elisabeth Seitz wurde am 5. November 1993 in Heidelberg geboren.
  • Sie wuchs in Altlußheim auf und machte 2013 am Mannheimer Ludwig-Frank-Gymnasium Abitur.
  • Ihre Turn-Karriere begann 2000 bei der TG Mannheim, seit 2015 lebt und trainiert sie in Stuttgart und startet für den dortigen MTV.
  • 2022 wurde sie Europameisterin und WM-Vierte am Stufenbarren.

Und dann gab es gleich zwei Medaillen.

Seitz: Ja, das war wirklich unfassbar. Dass wir mit dem Team Bronze holen und ich einen Tag später auch noch Europameisterin werde, bedeutet mir wirklich sehr viel. Ich habe mir selber damit bestätigt, dass ich alles richtig gemacht habe und dass das Turnen weiter das Richtige für mich ist. Diese Erfolge haben bei mir einen riesigen Motivationsschub ausgelöst.

Der Ihnen auch bei der WM zu einem starken 4. Platz verholfen hat.

Seitz: Das war eigentlich noch verrückter. Einige Wochen vor der WM hatte ich Corona und lag fast drei Wochen flach. An Training war kaum zu denken. Dass ich die WM-Quali geschafft habe, kam schon überraschend. Platz vier im Barren-Finale war dann wirklich sensationell.

Spielten da die Glücksgefühle von München noch eine Rolle?

Seitz: Auf jeden Fall. Ich hatte ein richtig gutes Gefühl, habe mir einfach vertraut. Mir keinen Ergebnisdruck zu machen, auf mein Gefühl, meinen Körper zu hören und die Wettkämpfe konzentriert aber entspannt zu genießen, das war das ganze Jahr der Schlüssel zum Erfolg.

Kann das auch in Zukunft der Schlüssel zum Erfolg sein. Oder sollte es mit Blick auf Olympia 2024 noch einmal ein anderer Schlüssel sein?

Seitz: Was ich in jedem Jahr und in jedem Wettkampf aufs Neue gelernt habe, dass man selbstverständlich Ziele haben sollte. Aber die Ziele, die Wettkämpfe und alles drumherum sorgen schon für genug Druck. Ich versuche, mir selbst so wenig wie möglich Stress zu machen. Dadurch, dass ich schon so lange dabei bin, meine Erfahrungen gemacht und Erfolge gefeiert habe, kann ich mit einer gewissen Lockerheit herangehen, die andere Athletinnen nicht mit in einen Wettkampf nehmen können. Ich versuche, meine Lockerheit nicht nur in das wichtige Jahr 2023 mit der WM in Antwerpen mitzunehmen, sondern auch mit nach Paris zu den Olympischen Spielen.

Sie hatten auch richtig schwierige Phasen in Ihrer Karriere. Gab es Momente, in denen Sie richtig an sich gezweifelt haben?

Seitz: Ja, es gab diese Momente. Das war Anfang 2015 kurz vor meinem Wechsel von Mannheim nach Stuttgart. Der Zweifel kam eigentlich vor allem deshalb, weil meine damalige Trainerin (Claudia Schunk, Anmerkung der Redaktion) eine ganz andere Vorstellung von meiner Karriere hatte als ich. Sie war der Auffassung, meine Karriere sei beendet und es wäre nun Zeit für jüngere Turnerinnen. Das war ein Schock: Ich hatte meiner Trainerin total vertraut und immer das Gefühl, wenn ich das mache, was sie sagt, dann ist das der richtige Weg.

Haben Sie ihr damals geglaubt?

Seitz: Im ersten Moment schon. Damals habe ich schon daran gezweifelt, ob ich wirklich weiter machen soll. Schließlich war meine Trainerin, die Person, der ich sportlich zu 100 Prozent vertraut habe. Heute bin ich froh darüber, wie das gelaufen ist, weil ich damals aus diesem Rückschlag gelernt habe. Ich weiß seitdem, dass ich mich immer mal wieder selbst zurückholen und mir selbst überlegen muss, was will ich eigentlich und wie soll meine Zukunft, wie soll mein Leben aussehen. Ich gehe keine Wege mehr, die andere Personen von mir erwarten. Ich gehe meine eigenen Wege und weiß was ich will.

Haben Sie in dieser Zeit auch rausgefunden, wem Sie wirklich vertrauen können?

Seitz: Ja, das habe ich – und das war sehr wichtig. Meine Familie, meine engsten Freunde, das sind die Personen, denen ich heute vertraue. Sie haben mich auch damals dazu bewegt, weiter zu machen und nach Stuttgart zu wechseln.

Sie haben sich Ihre mentale Stärke in den Jahren angeeignet und gelten generell als Person mit starker Willenskraft. Ist sie schlussendlich auch der Grund, weswegen Sie konstant in der Weltklasse turnen?

Seitz: Ja, der Bereich spielt auf jeden Fall eine große Rolle. Und er wird heutzutage auch im Spitzensport immer noch zu wenig beachtet. Ohne die innere Motivation, die Begeisterung, die psychische Stärke aber auch ohne sich wohlzufühlen, sind Spitzenleistungen nicht möglich.

Ihrem Bruder Gabriel Eichhorn wurde von Ärzten nach einer Ellbogen-OP das Ende seiner Turnlaufbahn prognostiziert. Jetzt turnt er als 17-Jähriger im deutschen Nachwuchskader und spricht vom Olympiasieg. Liegt die Willenskraft bei Ihnen in der Familie?

Seitz: Da steht einfach die Leidenschaft für den Turnsport ganz oben. Wir haben beide riesigen Spaß an der Sportart. Bei Gabriel war die Situation nach der Operation am Ellbogen schon extrem. Da haben selbst wir als Familie gesagt, dass er einen anderen sportlichen Weg einschlagen muss.

Er hat im Wasserspringen ja sogar einige Erfolge gefeiert…

Seitz: Aber glücklich war er nur beim Turnen. Und dass er es tatsächlich geschafft hat, obwohl wir als Familie gesagt haben, das geht mit dieser Verletzung nicht, macht mich wahnsinnig stolz. Das hat er ganz alleine mit seiner Motivation, mit seiner Willenskraft erreicht. Davor habe ich allergrößten Respekt.

Er selbst hat ja gesagt, er wolle erfolgreicher werden als Sie.

Seitz: Das wünsche ich ihm sehr, ich bin sein größter Fan. Wichtig ist aber erst einmal, dass er Spaß hat und verletzungsfrei bleibt.

Er steht noch am Anfang seiner Karriere. Wie schätzen Sie denn die Möglichkeiten für junge deutsche Sportler ein, in die Weltspitze vorzustoßen?

Seitz: Die Voraussetzungen sind eigentlich ganz gut. Ich bin zum Beispiel in der Sportfördergruppe der Bundeswehr, bin dort angestellt und kann meinen Sport ausüben und kann parallel dazu noch studieren. Ich bin also Profisportlerin und kann gleichzeitig für meine berufliche Zukunft etwas aufbauen. Trotzdem gibt es noch Verbesserungspotenzial.

Was genau meinen Sie?

Seitz: Die Aufmerksamkeit und Würdigung, die Sportler hierzulande erhalten, erreicht in anderen Ländern eine ganz andere Dimension. In Deutschland steht der Fußball ganz extrem im Fokus und genießt fast die komplette mediale Aufmerksamkeit. Das macht es uns Athleten schon bei der Sponsorensuche schwer. Und auch bei dem Ziel, junge Menschen für unsere Sportart zu gewinnen, ist das wenig hilfreich. Wie sollen wir denn die Kids fürs Turnen begeistern, wenn uns keiner sieht?

Was müsste sich denn ändern?

Seitz: Wir benötigen eine viel breiter aufgestellte Sportberichterstattung. Eine, die nicht nur uns Top-Athleten gewidmet ist, sondern generell das Thema Bewegung in den Mittelpunkt rückt. Die European Championships haben ja gezeigt, Deutschland hat Lust auf Sport. Wenn man die Möglichkeit hat, vor Ort dabei zu sein, dann sind die Leute da. Bei uns war die Halle immer ausverkauft, der Olympiapark war an einigen Abenden wegen Überfüllung geschlossen. Es wurde Sport getrieben und zugeschaut. Die European Games waren einfach die perfekte Werbung für verschiedene Sportarten. Und es hat gezeigt, was für eine Begeisterung der Sport in Deutschland entfachen kann. Das macht mir Hoffnung, dass wir bald vielleicht auch mal wieder Olympische Spiele in Deutschland sehen.

In diesem Bereich gibt es positive Entwicklungen. Die sich häufenden Fälle von sexuellem Missbrauch und seelischer Gewalt in Sportvereinen sind da natürlich absolut gegenläufig.

Seitz: Ich war in meiner Laufbahn zum Glück weder sexuellem noch seelischem Missbrauch ausgesetzt. Aber ich weiß selbstverständlich, dass es so etwas gibt. Und es gibt es leider noch viel zu häufig. Aber ich bin sicher, dass die Aufarbeitung der bekannten Fälle vielen Menschen die Augen geöffnet hat, dass man solchen Entwicklungen früh etwas entgegensetzt und sie im Keim erstickt. Die Gründung des Vereins „Safe Sport“ ist sicherlich eine sehr hilfreiche Initiative. Junge Sportler sollen sich sicher fühlen und Eltern ein gutes Gefühl haben, wenn sie ihre Kinder im Sportverein anmelden.

Was sagen Sie Kindern und Eltern, die sich für eine Sportart begeistern?

Seitz: Ich versuche, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um allen mit auf den Weg zu geben, wie toll Sport ist, dass Sport etwas Wunderschönes ist und dass man über die Bewegung hinaus großartige Dinge erlebt, Werte fürs Leben vermittelt bekommt und sich dadurch auch charakterlich entwickelt.

Und man findet Freunde fürs Leben?

Seitz: Oh ja, mit Kim Bui habe ich wirklich eine Freundin fürs Leben gewonnen. Alles, was ich in der Nationalmannschaft erlebt habe, war mit ihr gemeinsam. Und sie war auch für mich da, als ich von Mannheim nach Stuttgart gewechselt bin und ich mental wirklich ziemlich angeknackst war. Kim hat mich damals wahnsinnig herzlich begrüßt, mich in die Trainingsgruppe aufgenommen, die bis zu ihrem Karriereende im Sommer bestand. Das alles hat uns sehr zusammengeschweißt.

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