Merih Demiral hatte auf sich warten lassen. Der Presseraum der Leipziger Arena hatte sich weitgehend geleert, als die Hauptperson eines hochdramatischen Achtelfinals weit nach Mitternacht das Podium bestieg. Fröhlich grinsend bot der Doppeltorschütze der Türkei gegen Österreich beim 2:1-Erfolg an, dass er auch auf Englisch reden könne. Was nicht nötig war, da einem „Man of the Match“ gleich mehrere Dolmetscher assistieren.
Wer den 26-Jährigen zu diesem Zeitpunkt nicht kannte, hätte den Eindruck gewinnen können, dass hier ein Fußballer mit guten Umgangsformen auftritt. Doch eher kam ein Wolf im Schafspelz zum Vorschein.
Weil der Verteidiger nach seinem Kopfstoß zum 2:0 mit den Händen das Zeichen und Symbol der „Grauen Wölfe“ formte, weitet sich der frenetisch bejubelte, von Bierbecher- und Münzwürfen untermalte sportliche Erfolg zum Skandal aus. Denn der „Wolfsgruß“ führt zu den Anhängern der rechtsextremistischen „Ülkücü-Bewegung“, die in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet wird und in Frankreich und Österreich längst verboten ist.
UEFA leitet bereits Ermittlungen ein
Demiral allerdings mimte das Unschuldslamm. „Natürlich bin ich sehr glücklich, dass ich zwei Tore geschossen habe. Wie ich gefeiert habe, hat etwas mit meiner türkischen Identität zu tun. Ich habe Leute im Stadion gesehen, die auch diese Geste gemacht haben.“ Die Handzeichen sind nicht das erste Mal bei einem türkischen Länderspiel aufgetaucht.
Die Symbole türkischer Rechtsextremisten haben in unseren Stadien nichts zu suchen.
In der Türkei ist die ultranationalistische MHP ihre politische Vertretung und Bündnispartnerin der islamisch-konservativen AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan, der sogleich „viel Erfolg auf dem Weg zum Titel wünschte“. Den möglichen Halbfinaleinzug der Türkei wie bei der EM 2008 will Erdogan natürlich für sich vereinnahmen.
Demiral postet auch noch ein Bild von der Geste in seinem X-Kanal
Der Bundesverfassungsschutz hat festgestellt, dass die Ideologie der „Grauen Wölfe“ auf einer nationalistischen, antisemitischen und rassistischen rechtsextremistischen Ideologie basiere. Auf Nachfrage bekräftigte Demiral, dass er am liebsten auch im Viertelfinale gegen die Niederlande am Samstag (21 Uhr) in Berlin so jubeln möchte. „Ich hoffe, ich werde noch mehr Gelegenheiten haben, diese Geste zu machen. Es gibt keine versteckte Botschaft.“ Das klang fast schon dreist. Die Europäische Fußball-Union UEFA leitete am Tag danach ein Untersuchungsverfahren ein: Es gehe dabei um ein „mutmaßlich unangemessenes Verhalten“.
Auch wegen Aussagen auf der offiziellen UEFA-Pressekonferenz kann die Dachorganisation eigentlich gar nicht anders, als den türkischen Nationalspieler zu sperren. Auf der Plattform X postete er zudem ein Foto seiner unzweideutigen Geste. Bundesinnenministerin Nancy Faeser äußerte sich ebenfalls dort: „Die Symbole türkischer Rechtsextremisten haben in unseren Stadien nichts zu suchen.“ Das Turnier „als Plattform für Rassismus“ zu nutzen, sei „völlig inakzeptabel“.
Der türkische Fall wiegt schwerer als der des Albaners Daku
Die Furcht besteht, dass das mit einer riesigen türkischen Fankolonie gefüllte Berliner Olympiastadion am Samstag gleich wieder zum Schauplatz rechtsextremer Symbolik wird. Das gab es in der Geschichte leider bei einem anderen Sportereignis schon einmal. Der bei Fenerbahce in Istanbul ausgebildete, nach sechs Jahren in Portugal und Italien inzwischen in Saudi-Arabien bei Al-Ahli kickende Demiral hat bewusst gehandelt. Gut möglich, dass der Sohn eines Betonbauers - früh Halbwaise geworden und heute mit einem albanischen Model verheiratet - von vielen Landsleuten und der MHP zum Märtyrer gemacht wird, wenn die UEFA ihn aus dem Verkehr zieht.
Der albanische Nationalstürmer Mirlind Daku wurde für zwei EM-Partien gesperrt, weil er nach dem Kroatien-Spiel in Hamburg nationalistische Gesänge angestimmt hatte. Der Fall Demiral wiegt schwerer. Neben Menschenrechtsaktivisten zeigte sich auch die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) entsetzt. „Am Jahrestag des Sivas-Massakers so prominent den Wolfsgruß zu zeigen, ist ein absoluter Skandal“, sagte der GfbV-Nahostreferent Kamal Sido.
Die EM könnte für Demiral bereits beendet sein
Vor 30 Jahren hatte ein islamistischer Mob ein Hotel im Stadtzentrum von Sivas in Brand gesteckt, in dem sich alevitische Schriftsteller, Sänger und Intellektuelle aufhielten. Dabei starben 37 Menschen. „Die türkische Nationalmannschaft muss sich öffentlich vom Zeigen des rechtsextremen Symbols distanzieren“, forderte Sido. Fraglich, ob sie das tut.
Pressesprecher Türker Tozar blickte bei dem Thema gelangweilt drein. Nationaltrainer Vincenzo Montella schwärmte lieber über das Wechselspiel zwischen den Fans auf den Rängen und den Akteuren auf dem Rasen. „Diese Liebe ist unglaublich“, flötete der Italiener. „Ich freue mich, dass wir den türkischen Fans so viel Freude schenken. Mit der Unterstützung fühlen wir uns ganz stark.“
Doch nun droht die Schwächung am grünen Tisch. Der als Spaltpilz jubelnde Matchwinner Demiral verabschiedete sich übrigens mit einem Augenzwinkern bei einem türkischen Reporter. Ihm zeigte er zwei gehobene Daumen. Es könnte seine letzte Botschaft von einer EM gewesen sein, die nun in ein sportpolitisches Minenfeld gelangt ist.
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