Fußball

Wie Nagelsmann und Kroos die DFB-Auswahl wiederbelebt haben

Der 2:0-Coup der deutschen Fußball-Nationalmannschaft in Lyon beim Vizeweltmeister Frankreich kam so überraschend wie wuchtig. Es könnte der erhoffte Befreiungsschlag werden, doch die Protagonisten sind noch vorsichtig

Von 
Alexander Müller
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Die beiden Gewinner von Lyon: Toni Kroos (li.) feierte ein überragendes Comeback, Bundestrainer Julian Nagelsmann lag mit vielem richtig. © Christian Charisius/dpa

Lyon. Es war schon kurz vor Mitternacht, als Julian Nagelsmann sichtlich entspannt auf dem Podium des Pressekonferenzraums im Lyoner Groupama-Stadion Platz nahm, der mit seinen aufsteigenden Sitzreihen aussieht wie ein Uni-Hörsaal. Die Rolle des intellektuellen Fußball-Dozenten ist auch dem Bundestrainer nicht gänzlich fremd, doch nach dem 2:0 (1:0)-Coup bei Vizeweltmeister Frankreich am Samstagabend gab der 36-Jährige die Komplimente selbstlos weiter. „Wenn man so auftritt, hat das nicht nur mit dem Trainer zu tun, sondern mit den Spielern, die die Vorgaben so erstklassig umsetzen“, sagte Nagelsmann.

Er konnte sich diesen Großmut erlauben. Denn natürlich war der unerwartet überzeugende Triumph beim hoch gehandelten Nachbarn auch Nagelsmanns persönlicher Befreiungsschlag als Bundestrainer. Nach den Niederlagen im Herbst 2023 gegen die Türkei (2:3) und Österreich (0:2) hatte sich der Ex-Coach der TSG Hoffenheim zu einem für DFB-Verhältnisse fast revolutionären Neustart entschlossen.

Aktuelle Form schlägt seitdem Verdienste. Der Wert für eine gut austarierte Mannschaft wiegt höher als individuelle Klasse. Und jeder Schachzug Nagelsmanns funktionierte so gut, dass sich Sportdirektor Rudi Völler zu nächtlicher Stunde in Lyon geradezu euphorisiert zu einem großen Satz hinreißen ließ: „Das war das beste Spiel seit Jahren“, schwärmte der 63-Jährige. „Wenn du beim EM-Favoriten 2:0 gewinnst, ist das ein Pfund.“

Gündogan: „Das Lustige ist, dass es noch besser hätte sein können“

In der Heimatstadt des legendären Kochs Paul Bocuse servierte die DFB-Elf ein fußballerisches Sterne-Menü, nachdem zuletzt viel schwer verdauliche Hausmannskost auf den Tisch gekommen war. Direkt nach dem Anpfiff passte der im Nachgang zurecht heftig gefeierte Rückkehrer Toni Kroos bei einer einstudierten Variante zu Florian Wirtz, der nach acht Sekunden mit einem fulminanten 20-Meter-Schuss das schnellste Tor der DFB-Geschichte erzielte. Bei einer französischen Drangphase Mitte der ersten Halbzeit bewies die deutsche Elf dann lange vermisste defensive Widerstandsfähigkeit, um den Franzosen mit einem erneuten schnellen Treffer im zweiten Abschnitt durch Kai Havertz (49.) final den Zahn zu ziehen. Der Rest war deutsche Dominanz, die die anfangs extrem lauten 60 000 Fans der „Équipe Tricolore“ vollends zum Schweigen brachte.

„Das Lustige ist, dass es noch besser hätte sein können“, sagte DFB-Kapitän Ilkay Gündogan. Verbesserungspotenzial gibt es natürlich immer, aber tatsächlich muss man lange zurückblättern, um vergleichbar überzeugende Auftritte des DFB-Teams gegen Topnationen zu finden. Am 14. Juni 2022 gab es einmal ein 5:2 gegen Europameister Italien in der Nations League, auswärts gelang im gleichen Wettbewerb im März 2019 ein 3:2-Sieg in Amsterdam gegen die Niederlande.

Der Bundestrainer widerstand trotz des Traumstarts ins EM-Jahr der Versuchung, sich für seine erfolgreichen Umbaumaßnahmen feiern zu lassen. Alles überstrahlte ohnehin das Comeback von Kroos, der im zentralen Mittelfeld auf Anhieb zu dem Fixpunkt wurde, der zuletzt gefehlt hat. Ein Stabilitätsanker mit riesiger Erfahrung, an dem sich die anderen orientieren können. „Toni Kroos war unfassbar. Er war Taktgeber, hat unglaublich viel gearbeitet. Toni gibt den anderen Spielern so viel Sicherheit“, betonte Nagelsmann.

Die Balance und Struktur stimmten plötzlich. Hinten rechts hielt Joshua Kimmich Frankreichs Weltstar Kylian Mbappé weitgehend im Zaum, zentral verteidigten Antonio Rüdiger und Jonathan Tah souverän, auf der Problemposition Linksverteidiger feierte der Stuttgarter Maximilian Mittelstädt ein solides DFB-Debüt, das Hoffnung auf eine dauerhafte Lösung weckt. Und vorne wirbelte mit Havertz, Gündogan, Wirtz und Jamal Musiala so viel fußballerische Kreativität, das die Franzosen letztlich resignierten. „Wir waren nicht in der Lage, uns an das Level unseres Gegners anzupassen“, sagte Frankreichs Trainer Didier Deschamps. Eine bemerkenswerte Aussage.

Aus den Reaktionen der DFB-Protagonisten klang allerdings auch immer wieder durch: Die großartige Nacht von Lyon kann nur ein Anfang gewesen sein. „Losgelöst von dem Gegner geht es erst mal um die Art und Weise. Den Mut auf dem Platz werden wir auch gegen Holland wieder sehen wollen“, sagte Nagelsmann vor dem nächsten Härtetest am Dienstag (21 Uhr/live bei RTL) gegen die Niederlande, bei dem es laut dem Bundestrainer keine gravierenden personellen Änderungen geben soll.

Zum Schluss, der neue Tag war gerade angebrochen, verabschiedete sich Nagelsmann noch mit einem hübschen Spruch vom Pressekonferenzpodium. „Wir sind jetzt mal abgebogen auf die Straße Richtung EM“, sagte Nagelsmann. Wo der Weg hinführt, wird sich zeigen.

Redaktion Fußball-Reporter: Nationalmannschaft, SV Waldhof, Eintracht Frankfurt, DFB

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