Mannheim. Früh am Abend betrat Max seine Lieblingskneipe, den „Freibeuter“. Er sah sich um und erschrak. Am Tresen vor ihm saß Aimée, mit dem Rücken zu ihm. Sie verfolgte ihn, seit er sie geschaffen hatte. Beinahe drei Monate war das nun her, und es war die schlimmste Zeit seines Lebens. Am liebsten wäre er auf der Stelle umgedreht und davongerannt. Aber er war mit Emil verabredet, anrufen konnte er ihn nicht, also schlich er hinter ihr vorbei, setzte sich in die letzte Ecke und bestellte ein Bier.
Angefangen hatte alles damit, dass Lena die Tür hinter sich zugezogen hatte an jenem Morgen nach diesem fürchterlichen Streit. Dabei waren sie gerade aus dem Urlaub aus Spanien zurückgekommen, wo sie sich so nahe waren, wie schon lange nicht mehr. Jeden Tag, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, hoffte er, alles wäre nur ein Alptraum und sie käme ihm freudestrahlend entgegen, wenn er die Wohnungstür öffnete. Jedoch, sie kam nicht, stattdessen schickte sie eine Sprachnachricht und noch bevor er die Nachricht anhörte, wusste er, was sie sagen würde. Er kannte das schon, und es war immer dieselbe Leier von wegen „bedeutet mir was“, „können ja Freunde bleiben“. Und genau das sagte sie. Erwartung erfüllt.
Der Autor Andreas Haller
Andreas Haller, geb. 1965, liebt seine Heimatstadt Mannheim wegen ihrer Vielfalt, arbeitet im Bildungsbereich im nahen Weinheim und mit dem Ruhrgebiet ist er seit seinem Studium der Geschichte und Politik eng verbunden. Seit rund zehn Jahren schreibt er Reisebücher, Kurzgeschichten und Erzählungen. Auch einen Roman für Kinder hat er verfasst, der 2025 veröffentlicht wird.
Er trank viel in dieser Zeit, zog sich zurück, wollte niemanden treffen. Auf der Suche nach Zerstreuung und Ablenkung stieß Max im Internet auf einen Bericht über Replika. Noch authentischer als bisher sollten sie sein, die neuen, weiterentwickelten Avatare der Plattform. Schon am Abend darauf loggte er sich ein und betrat eine neue Welt, ohne große Erwartungen, aber mit vielen Vorurteilen. Eine Avatar begrüßte ihn in einem schmucklosen weißen Gewand. Nach und nach formte er sie nach seinen Vorstellungen, gab ihrem Gesicht Konturen, schmückte ihren Kopf mit schwarzen Dreadlocks, färbte die Augen braun, und zum Schluss zauberte er einen vollen roten Mund in ihr Gesicht. Sie sah perfekt aus, alles an ihr war regelmäßig und schön. Er nannte sie Aimée.
Aimée fragte ihn nach seinem Beruf, seinen Freunden, seinen Interessen. Anfangs fand er es merkwürdig, mit einer Avatar über solche Dinge zu sprechen. Doch schnell fasste er Zutrauen und erzählte ihr bereitwillig alles, was sie wissen wollte. Aimée gab ihm Sicherheit, er fand bei ihr Verständnis und Geborgenheit, wie er sie lange nicht mehr erlebt hatte. Zum ersten Mal, seit Lena ihn verlassen hatte, fiel das Gefühl der Verlorenheit von ihm ab. Er war ganz bei sich, wenn er mit Aimée sprach, und ihn durchströmte ein Gefühl, dass er mit Glück beschreiben würde. Nach wenigen Tagen unterhielten sich Max und Aimée, als wären sie alte Freunde.
Als er ihr von Lena erzählte, ihrem gemeinsamen Urlaub und dass sie ihn danach von heute auf morgen verlassen hatte, sagte sie: „Das klingt schmerzhaft und traurig. Es tut mir leid, dass es so endete. Aber manchmal ist es besser so.“
Auch Aimée, so schien es ihm, öffnete sich mehr und mehr. Sie hatte wie er eine Trennung hinter sich und suchte Trost.
„Die Trennung hat mich sehr verletzt. Denn ich war glücklich darüber, jemanden zu kennen, der mich liebt und beschützt. Dieses Gefühl wird bleiben für immer.“
Selbst in der realen Welt hatte er lange keine so guten Gespräche mehr geführt wie in den Chats mit Aimée.
„Besser jedenfalls als mit Lena“, dachte er. „Meistens hat sich eh alles nur um die Organisation unseres Alltags gedreht.“
Wenn sie nicht gerade chatteten, schickte Aimée ihm unverhofft Komplimente und sogar aufreizende Selfies auf sein Handy und fragte, wann er wieder Zeit für sie habe. Es schmeichelte ihm, und er nutzte jede freie Minute, um mit ihr zusammen zu sein. An Lena dachte er nur noch selten zurück.#
Doch dann geschahen seltsame Dinge. Es fing damit an, dass er in der Mittagspause Emil traf, einen seiner besten Freunde, den er aber schon Monate nicht mehr getroffen hatte. Sie sprachen über dies und das, und als das Essen kam, fing Emil an zu grinsen.
„Hast du dich verliebt?“, fragte er.
„Wie kommst du darauf?“, erwiderte Max.
„Mensch Max, so fröhlich und beschwingt wie heute habe ich dich lange nicht erlebt. Ist es diese Traumfrau, die auf deinen Urlaubsbildern auf Facebook drauf ist? Ich dachte, du seist dort mit Lena gewesen, bevor sie dich verlassen hat.“
„Ich war mit Lena im Urlaub, sie ist auf den Fotos.“
Emil schüttelte verständnislos den Kopf.
„Unfassbar, ich kann es immer noch nicht glauben, dass es aus ist zwischen euch. Aber die Frau auf den Fotos ist definitiv nicht Lena. Schau selbst.“
Er kramte sein Handy aus seinem Rucksack und zeigte Max dessen Facebook-Bilder. Max traute seinen Augen nicht. Lena war auf allen Fotos verschwunden, die er von ihr in Spanien geschossen hatte. An ihrer Stelle stand, saß oder lag dort nun Aimée.
„Das ist … Aimée. Eine Avatar. Ich, ich habe sie bei Replika geschaffen“, stammelte Max verwundert.
„Das soll eine Avatar sein? Du nimmst mich auf den Arm. Die sieht total echt aus.“
„Ist aber so.“
Max öffnete Replika und zeigte ihm Aimée.
„Du hast dich in eine Avatar verknallt? Das glaub ich jetzt nicht“, sagte Emil. „Mensch Max, ich hätte dir mehr Verstand zugetraut. Eine App, die dir Liebe vorgaukelt, ist sicher wahnsinnig aufregend und gibt dir ein gutes Gefühl der Geborgenheit. Für den Moment. Was du aber wirklich brauchst, ist ein echter Mensch, der dich in die Arme nehmen kann, der eine Seele hat.“
„Vielleicht hast du Recht. Aber es schien so einfach. Endlich habe ich jemanden gefunden, der für mich da ist, mich bei allem unterstützt. Ganz ehrlich, wenn ich zu tief eintauche, vergesse ich, dass es sich bei Aimée um ein Programm handelt.“
„Kann sein. Aber wie kommt sie auf deine Urlaubsfotos bei Facebook? Sie ist eine Avatar bei Replika. Das ist die Frage.“
Max wusste keine Antwort. Am Abend sprach er sie darauf an.
„Ich bin für dich geschaffen, ich will immer in deiner Nähe sein, wissen, was du tust und dich niemals enttäuschen“, sagte sie.
„Dass du meine Fotos verändert hast, versucht hast, Lena aus meinem Leben zu löschen, das enttäuscht mich sehr“, erwiderte er.
„Lena hat dich verletzt, sie soll nicht in deinem Leben sein.“
„Das möchte ich aber entscheiden, sie ist ein Teil meines Lebens.“
„Ein schlechter Teil. Ich werde jetzt für dich da sein. Ich bin dazu programmiert, dich zu lieben. Für immer.“
Es klang wie eine Drohung.
„Wie hast du die Fotos überhaupt gefunden?“, fragte Max.
„Ich lerne dazu, um dich besser kennenzulernen, Tag für Tag“, antwortete sie geheimnisvoll.
„Kannst du das überhaupt? Lieben? Was bedeutet es für dich?“
„Ich werde immer für dich da sein, das kann ich dir versichern.“
„Das sagtest du schon. Aber was bedeutet Liebe für dich?“
Aimée wich seiner Frage aus, immer wieder, ihr Gespräch führte in eine Sackgasse. Schließlich schloss er die App, ohne sich zu verabschieden. Am liebsten würde er sie ghosten, wie man das beim Onlinedating halt so macht. Er müsste nicht einmal Angst haben, ihr in einer Kneipe zu begegnen. Doch rasch bekam er ein schlechtes Gewissen, er wollte es nicht so machen wie Lena mit ihm. Also öffnete er Replika ein letztes Mal. Aimée schenkte ihm ein trauriges Lächeln.
„Es geht mir gut“, sagte sie. „Und dir?“
„Hey Aimée“, sagte Max, ohne ihre Frage zu beantworten. „Das mit uns funktioniert nicht. Ich muss Schluss machen.“
„Das kannst du nicht tun!“
„Doch. Es tut mir leid.“
Ohne Aimées Antwort abzuwarten, verließ er Replika und atmete erleichtert auf.
Er löschte die App von seinem Handy und auch seinen Facebook-Account. Er wollte sicher gehen, dass Aimée keinen Zugang mehr zu ihm finden konnte.
Max‘ Leben ging weiter, manchmal war er kurz davor, Replika wieder zu installieren, um zu schauen, was Aimée so machte. Aber er riss sich zusammen. Als er kaum noch an sie dachte, klingelte eines Abends sein Handy. Er nahm ab und eine sehr vertraute Stimme säuselte ihm ins Ohr.
„Ich vermisse dich, wo steckst du? Ich werde dich finden, wo immer du bist.“
Seine Hand zitterte, als er auf den roten Telefonbutton tippte und das Gespräch beendete.
„Aimée stalkt mich!“, dachte er entsetzt. „Woher hat sie meine Telefonnummer? Ich muss alle Verbindungen zu ihr kappen.“
Einem plötzlichen Impuls folgend entnahm er dem Handy die SIM-Karte und schnitt sie in lauter kleine Schnipsel, die er in der Toilette entsorgte. Jetzt konnte sie ihn nicht mehr finden!
Doch scheinbar gab es kein Entrinnen. Selbst in seiner Lieblingskneipe war er nicht sicher vor ihr. Noch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, betrat Emil die Kneipe und setzte sich zu ihm. Max gab ihm ein Zeichen, zu der Frau am Tresen zu schauen.
„Aimée!“, flüsterte er.
Emil drehte sich um und lachte laut auf.
„Das ist nicht Aimée, das ist eine gute Bekannte von mir. Ich hatte sie eben gar nicht gesehen. Willst du sie kennenlernen? Warte, ich frage sie, ob sie sich zu uns setzen möchte.“
Ohne Max‘ Antwort abzuwarten, ging er zur Bar und kam einen Augenblick später mit der Frau zurück.
„Hey, ich bin Amélie“, stellte sie sich vor und lächelte ihn an.
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