Mannheim. Erinnern Sie sich noch, wo Sie am 11. September 2001 waren und was Sie in dem Moment getan haben, als sich die schrecklichen Nachrichten von den Terroranschlägen in Amerika verbreiteten? Die meisten wissen es noch sehr genau. Niemand, der nicht die Bilder der brennenden und später einstürzenden Twin Towers in New York vor seinem geistigen Auge hat.
Als ich am 13. Juni 2030 aufwachte, ahnte ich nicht, welche besondere Begegnung mich heute erwarten sollte. Dass der Zeitpunkt nah war, der unsere Welt ins Chaos stürzen würde und ebenso unvergessen bleiben sollte wie 9/11, jedoch auf eine ganz andere Art, das wusste ich, denn ich würde direkt daran beteiligt sein.
Kurz nach 9 Uhr verließ ich meine Wohnung. Die Codewatch am Handgelenk tat mit einem dezenten Brummen kund, dass die Wohnungstür sich automatisch verriegelt hatte.
„Hallo Hannah, auch schon unterwegs?“
„Guten Morgen, Jonas“, grüßte ich meinen Nachbarn freundlich zurück, der neben mir stehenblieb.
Verstohlen musterte ich ihn. In dem Multistore unseres Viertels hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass Jonas der „Nächsten Generation“ angehörte. Diese Aktivistengruppe wurde vor ein paar Jahren von ehemaligen Mitgliedern der „Letzten Generation“ gegründet. Die Klimakleber gab es nicht mehr. Die Ziele, für die sie eintraten, fanden viele gut, aber die Methoden nicht. Sie erhielten zunehmend Gegenwind aus der Bevölkerung und schrumpften, bis sie bedeutungslos waren.
Unser Land entwickelte sich immer mehr zu einer dystopischen Gesellschaftsordnung.
Die Digitalisierung wurde mit Brachialgewalt vorangetrieben, nachdem man sie lange Zeit verschlafen hatte. Jeder Mensch trug eine Codewatch, die alle wichtigen Informationen zu ihrem Träger auf einem Microchip vereinte. Eine Uhr statt vieler Plastikkarten und Ausweise. In den Stores zahlte man per Fingerabdruck. Bargeld war längst abgeschafft.
Es gab so gut wie keinen Individualverkehr mehr. Man kam aber jederzeit von A nach B in einer fahrerlosen Transportkapsel oder autonom fahrenden Shuttlebussen. KI-Systeme hatten die Arbeitswelt revolutioniert. Sie erledigten die zeitraubenden Routinearbeiten, und der Mensch konnte sich auf das Wesentliche konzentrieren. Keine Staus, keine Wartezeiten an Supermarktkassen, eine niedrigere Wochenarbeitszeit – die Menschen hatten viel mehr Freizeit als noch vor zehn Jahren. Waren sie deshalb friedlicher, glücklicher, zufriedener? Mitnichten! Seit der Pandemie hatten sich die psychischen Erkrankungen vervielfacht. Und das bei einem gleichzeitigen Mangel an medizinischem Personal. Doch der digitale Wandel ließ sich nicht aufhalten.
Jonas und ich verabschiedeten uns voneinander.
„Pass auf Dich auf!“, rief ich ihm spontan hinterher. Er grinste, als wüsste er, was passieren würde. Unmöglich! Entgegen der Gerüchte war ich ihm bei keinem der letzten Treffen begegnet. Warum sollte er ausgerechnet an diesem besonderen Tag bei der „Nächsten Generation“ auftauchen? Dass er in eine andere Richtung verschwand wie ich, bestätigte mich.
Unterwegs foppte ich sonst gerne die verschiedenen Kameras, rannte im Kreis, ließ sie sich immer schneller drehen und stellte mir vor, dass der KI im Inneren schwindlig werden würde. Heute beobachtete ich nur, was in der Stadt vor sich ging.
Geschäftiges Treiben, kleine Menschentrauben, die sich aus den Bussen schälten und dann ihrer Wege gingen. Kaum jemand, der nicht in sein Smartphone starrte und kabellose Kopfhörer im Ohr trug.
Eine Vibration am Handgelenk. Ich musste aussteigen. Das blaugetünchte Zweifamilienhaus gehörte der Rentnerin Lina, die unser Bündnis im Kampf für eine bessere freie Welt unterstützte. Sie stellte ihre Wohnung im Obergeschoss für unsere Treffen zur Verfügung.
Ich begrüßte sie herzlich. „Geh gleich hoch“, forderte sie mich auf. „Die anderen sind schon da.“
„Auch Mister B. himself?“, fragte ich.
„Nein, der noch nicht. Kommt sicher bald.“
Die Autorin Johanna Basler
Johanna Basler wurde 1964 in Mannheim geboren und lebt bis heute im südhessischen Viernheim, Kreis Bergstraße.
In ihrer Freizeit schreibt sie gerne Geschichten und liest Bücher unterschiedlichster Genres.
Außerdem liebt sie es, schöne Dinge zu entdecken und sie zu fotografieren.
Sie ist Mitglied einer Autorengruppe in Speyer, um sich mit Gleichgesinnten auszutauschen und sich als Autorin weiterzuentwickeln.
Oben wurde ich von allen mit Victory-Zeichen begrüßt. Ich setzte mich auf meinen Lieblingsplatz, die breite Fensterbank, von der aus man die Straße gut einsehen konnte. Gerade steuerte jemand auf Linas Haus zu.
„Wenn das da unten Mister B. war, dann sieht er aus wie der Zwillingsbruder von meinem Nachbarn“, stellte ich fest.
Alle blickten gespannt zur Tür, die langsam aufschwang.
„Moin, moin“, sagte eine mir sehr wohlbekannte Stimme. „Ich bin …“
„… Jonas!“, vollendete ich den Satz. „Das kann doch gar nicht sein!“
„Kann es auch nicht. Ich bin Mister B.!“, zog er mich auf.
Na klar, Jonas Bieniki … Mister B.
„Wenn Hannah dann ihre Contenance wiedergefunden hat, können wir zur Tat schreiten. Wir werden wichtige KI-Netzstecker des Landes mit unseren Trojanern manipulieren.“ Er sah in die Runde. „Lissy, du bist die Erste.“
Wir konnten alles auf dem riesigen Hologramm-Monitor verfolgen. Jonas hatte sich als erstes Ziel die Flughäfen ausgesucht. Nachdem Lissy die Installation der Schadsoftware gestartet hatte, dauerte es nicht mehr lange, bis sich Unruhe an den Kofferkontrollstellen verbreitete.
„Da! Im Koffer sind zwei Pistolen! Und das sieht aus wie Drogenpäckchen!“
„Gelungene Fake News!“
Jonas nickte grinsend. „Ja, sie werden Spaß haben in den nächsten zwei Tagen, denn genau so lange lassen wir die Trojaner laufen. Und bevor die Regierung unsere Software ausschalten kann, tun wir das selbst und läuten die nächste Phase ein. Die Systeme werden neu gestartet, aber der große Netzstecker ist von uns getuned und sendet bei bestimmten KI-Systemen, die wir als bedenklich erachten, einen schrillen Signalton mit einem aufklärenden Warnhinweis. Bei unbedenklichen KI-Tools ertönt ein kurzer Applaus. – Robert, Du bist dran.“
Robert startete die Installation, und wir beobachteten interessiert, was mit den Bussen und den Transportkapseln passierte. Zunächst schien alles wie immer. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. Dann zeigten die ersten eine Reaktion, denn der Bus und die Kapseln, die sonst fehlerlos ihr Ziel erreichten, führten sich auf wie Rebellen und fuhren mit ihren hilflosen Fahrgästen ganz andere Orte an als vorgesehen. So landete der Shuttlebus statt in der Innenstadt im Wald.
Ich war gespannt, was in den zwei Tagen noch Chaotisches geschehen würde, aber auch was vielleicht Gutes entstehen konnte, wenn die Menschen wieder mehr miteinander als nebeneinanderher lebten.
Was würde die Menschheit aus dem Erlebten lernen? Würden sie die Botschaften überhaupt begreifen, die Warnung verstehen, Veränderungen anstreben, und würden andere diese akzeptieren?
In kurzer Zeit würden wir es erfahren, wenn der große Netzstecker wieder die übergeordnete KI mit Strom versorgen würde und die Botschaften von Jonas und den Aktivisten der „Nächsten Generation“ jeden erreicht haben.
Jonas schaute zu mir. „Hannah, it’s your turn now.“
Meine Hand näherte sich der Maus und umschloss sie. Im nächsten Augenblick zuckte ich zusammen. Maus? Wieso Maus? Niemand benutzte mehr so etwas, um seinen PC zu steuern. Irritiert wischte ich mir über die Augen, aber die Maus war noch da. Ich schlug mir nicht gerade zärtlich mit meiner Hand auf die linke Wange.
„Jonas! Was ist hier los? - Jonas?“ Jonas war verschwunden! Wie konnte das sein? Schweiß brach mir aus. Mein Blick wanderte panisch durch den Raum. Der flackernde Monitor, der Drucker im Eck, ein Kalender von 2023!
2023? In diesem Moment verstehe ich, dass ich nicht in der Wohnung von Lina bin, sondern in meinem Zuhause. Erleichtert atme ich auf. Offenbar hat mir mein übermüdeter Geist einen Streich gespielt. Meine Erinnerung kommt nach und nach zurück. Ich habe viel zu lange am Laptop gesessen und meine Kurzgeschichte für den Schreibwettbewerb zum Thema „KI und ich“ überarbeitet. Dabei bin ich so tief in die Handlung abgetaucht, dass Fiktion und Wirklichkeit sich überlagert haben.
Nun muss ich mich aber sputen, bevor die Abgabefrist endet. Das Anschreiben ist schnell verfasst und die Mail mit meiner Erzählung auf die Reise geschickt.
In der Beschreibung des Wettbewerbs steht, dass die Redaktion eine Auswahl der besten Geschichten treffen wird. Ob dabei wohl auch schon Künstliche Intelligenz eingesetzt wird? Wenn, dann sicherlich nur als Unterstützung. Aber wie sieht das im Jahr 2030 aus, falls der Schreibwettbewerb „Erzähl mir was“ in die 11. Runde geht? Wie viel Redaktion wird dann noch übrig sein und wie viele Mitarbeiter bereits durch KI ersetzt sein?
Ich wünsche mir, dass Künstliche Intelligenz von den Entscheidungsträgern in der Politik, der Wissenschaft und den Unternehmen dieser Welt verantwortungsbewusst gehandhabt wird. KI soll die Menschen unterstützen und nicht ersetzen, besonders nicht in den Bereichen, in denen Empathie und menschliche Wärme so wichtig sind.
Jeder einzelne von uns trägt eine Mitverantwortung. Wir dürfen KI weder einen Heiligenschein aufsetzen noch sie verteufeln.
Denn wie ließ Goethe seinen Götz von Berlichingen sagen?
„Wo viel Licht ist, ist starker Schatten.“ Das sollten wir nie vergessen.
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