Gespaltene Gesellschaft

«Gräben tiefer denn je» - Deutschland nach dem Gaza-Krieg

Zwei Jahre hieß es auch in Deutschland: Bist du für Israel oder für Palästina? Nun ist der Krieg hoffentlich zu Ende, aber das bedeutet noch lange nicht, dass man wieder miteinander redet.

Von 
Christoph Driessen
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Berlin. Nathan (18), ein jüdischer Kölner, war zum Zeitpunkt des Terrorangriffs der Hamas am 7. Oktober 2023 mit seiner Familie zu Besuch in Israel. «Wir waren den ganzen Tag nur vor dem Fernseher und haben israelische Nachrichten geguckt», erinnert er sich im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Was seine Familie besonders erschütterte, waren die Bilder von feiernden Muslimen auf den Straßen von Berlin. 

«Auch die "Free Palestine"-Proteste in der Woche nach dem 7. Oktober, es war einfach extrem schockierend, so etwas in Deutschland, in seiner Heimat, zu sehen.» Deshalb fiel es Nathan trotz der hochgradig angespannten Lage in Israel richtig schwer, nach Deutschland zurückzufliegen. In den ersten Tagen danach wollte er nicht wieder in die Schule gehen. «Einfach weil es mich so bedrückt hat.» 

Eine Art politische Fußball-Mentalität hat sich ausgebreitet

Bedrückend war der Konflikt auch für viele Deutsch-Palästinenser, nur aus anderen Gründen. Der Berliner Kinderarzt Qassem Massri (41) berichtet der dpa, dass er mindestens 65 Verwandte durch die israelischen Bombenangriffe verloren habe. «Ich habe bei 65 aufgehört zu zählen», sagt er. Er ist selbst im nördlichen Gaza-Streifen aufgewachsen und 2003 zum Medizinstudium nach Deutschland gekommen. «Die letzten zwei Jahre waren die schlimmste Zeit meines Lebens.»

Sein Deutschland-Bild habe sich völlig verändert: «Ich hatte geglaubt, dass der Zweite Weltkrieg und der Holocaust eine Lektion für dieses Land gewesen wären. Aber ich habe mich geirrt. Deutschland ist für mich ein Partner in diesem Verbrechen an der palästinensischen Zivilbevölkerung, weil es Israel dabei unterstützt hat. Wenn das "Nie wieder" nicht für alle gilt, dann hat Deutschland nichts gelernt aus seiner Geschichte.»

Der Nahost-Konflikt hat schon immer polarisiert: Jedes Mal, wenn es in der Region eine Eskalation gab, erhöhte dies auch die Spannungen in Deutschland. Aber der 7. Oktober 2023 und alles, was danach kam, hatte eine andere Dimension. «Seitdem sind die Gräben auch bei uns hier tiefer als jemals zuvor», sagt die Politologin Saba-Nur Cheema. «Die Empathie ist noch selektiver geworden. Viele sehen ausschließlich das Leid der einen und nie das der anderen Seite.»

Und es gab noch einen Unterschied: Zum ersten Mal bezogen große Teile der Bevölkerung in dem Konflikt Stellung. «Die Frage war: Für wen bist du - Israel oder Palästina?», fasst es Shai Hoffmann zusammen, ein jüdischer Deutscher mit israelischer Familienbiografie, der sich in Schulen mit dem Format «Trialog» und in seinem Podcast «Über Israel und Palästina sprechen» für Verständigung einsetzt. In Deutschland habe sich eine Art «politische Fußball-Mentalität» ausgebreitet, sagt er. 

Die Gegen-Meinung wird in den Kommentar-Foren niedergemacht

Einen Dialog gab es fast nur noch in kleinen Formaten wie dem Jüdisch-Muslimischen Salon in Berlin. Für Menschen wie Stefan Jakob Wimmer, der sich als Vorsitzender der «Gesellschaft Freunde Abrahams» seit Jahrzehnten für den interreligiösen Dialog engagiert, war die Zeit zutiefst deprimierend. 

Wimmer hält es für besonders schädlich, wenn der Dialog an Bedingungen geknüpft wird, wenn jüdische Gemeinschaften zum Beispiel sagen: Wir reden nur mit Leuten, die das Existenzrecht Israels anerkennen. «Man muss sich eben auch das anhören, was einem nicht passt - denn es ist ja da», ist seine Meinung dazu. «Es wird gedacht, es wird gesagt, es wird entsprechend gehandelt. Und wenn wir nicht darüber sprechen, wird alles nur noch schlimmer.»

Das Lagerdenken steht dem entgegen. Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, weiß von seiner Arbeit her, wie stark gerade Jugendliche durch Kurzvideos auf Tiktok und Instagram beeinflusst werden. «Und da ist die Polarisierung sehr ausgeprägt. Sie bekommen nur gefilterte Informationen.» Je nachdem in welcher Kommentar-Sektion man sich bewegt, bekommt man nur Pro-Palästina- oder nur Pro-Israel-Äußerungen zu hören. Gegensätzliche Stimmen werden niedergemacht. Es sei deshalb extrem wichtig, den Nahost-Konflikt und die damit einhergehenden Emotionen in der Schule zu thematisieren, sagt Mendel.

Shai Hoffmann hat bei seiner Arbeit in Schulen allerdings die Erfahrung gemacht, dass sich viele Lehrer nicht mehr an das Thema heranwagen. «Die krasseste Gefahr beim Sprechen über Israel und Palästina ist der Stempel des Antisemitismusvorwurfs. Dieser Vorwurf kann berufliche Existenzen zerstören, und deshalb ziehen sich extrem viele Lehrkräfte mit biografischen Bezügen lieber aus dem Diskurs raus.»

«From the River to the Sea» - sollte das wirklich verboten sein?

Nathan erzählt, dass er an seinem Kölner Gymnasium aufgrund seines jüdischen Hintergrunds kurzerhand zum Nahost-Experten erklärt wurde. «In einem bestimmten Unterrichtsfach wurde ich von meinem Lehrer sehr oft auf die Nahost-Situation angesprochen und gefragt, ob ich nicht gesehen hätte, was Netanjahu jetzt wieder gemacht hätte. Ich fand es schon erschreckend, wie viele Menschen mich automatisch damit verbunden haben, nur weil sie gehört hatten, dass ich jüdisch bin.»

Viele Juden fühlten sich in den vergangenen beiden Jahren alleingelassen - ein Gefühl, das sie mit Palästinensern und Muslimen teilen. «Viele Muslime haben einen Vertrauensverlust gegenüber der Mehrheitsgesellschaft und der Politik erlebt», berichtet Politologin Cheema. «Sie empfinden es so, dass sie nicht gesehen werden.» Für sie geht es um die Frage, wer in diesem Land Solidarität bekommt, insbesondere auch von oberster Stelle, von der Bundesregierung.

Zudem kritisieren sie eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, etwa durch das Verbot der Parole «From the River to the Sea», die als Leugnung des Existenzrechts Israels verstanden werden kann, das sich zwischen dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer erstreckt. Viele ausländische Medien haben Deutschland für den strikten Umgang mit der Parole und die damit begründeten Auflösungen von Pro-Palästina-Demonstrationen scharf verurteilt. 

Nun ist die große Hoffnung da, dass der Krieg im Gazastreifen auf Dauer zu Ende ist - und damit auch der Dialog in Deutschland wieder in Gang kommt. Allerdings besteht Einigkeit darüber, dass dies ein langer und steiniger Weg werden wird. «Es wird lange dauern, neue Beziehungen aufzubauen, wieder aufeinander zuzugehen», analysiert Cheema. Sie selbst ist da die große Ausnahme: Aufgewachsen in einem konservativ-muslimischen Umfeld in Frankfurt, ist sie heute mit dem in Israel geborenen Meron Mendel verheiratet. Das Ehepaar engagiert sich seit Jahren im jüdisch-muslimischen Dialog, arbeitet gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit.

Nathan sieht für sich keine Zukunft mehr in Deutschland

Viele andere glauben nicht mehr an eine Wende zum Guten. «Ich bin ganz klar der Meinung, dass das Verhältnis zerrüttet ist», sagt Nathan, der dieses Jahr Abitur gemacht hat. «Die Gesellschaft hat sich durch diesen Konflikt zu sehr gespalten.»

Sieht er seine persönliche Zukunft in Deutschland? «Nein, auf keinen Fall», ist die Antwort. «Wenn ich langfristig denke, möchte ich in diesem Deutschland mit wachsendem Antisemitismus keine Familie großziehen. Man fühlt sich einfach extrem unsicher hier. Dass ich mit meiner Davidstern-Kette über dem T-Shirt nicht über die Straße gehen kann, ohne mit Gewalt oder Beleidigungen zu rechnen, das ist traurig.» Dabei ist das Land doch seine Heimat, alle seine Freunde leben hier. «Aber so wie die aktuelle Situation ist, sehe ich keine Zukunft in Deutschland.»

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