Hohes Gericht,
dass ich hier heute öffentlich von unserem vergangenen Jahr berichte, mache ich für unseren Sohn Rouven. Damit auch er hier eine Stimme bekommt und das Gericht ihn etwas besser kennenlernt und versteht, was uns durch diesen Tag am 31. Mai genommen wurde. Wir bekamen das Angebot des Gerichts, vor Schließung der Beweisaufnahme eine Aussage zu machen. Dabei hätten wir allerdings nur ohne unsere Notizen auf Fragen antworten dürfen und hätten vielleicht etwas vergessen, was uns auf dem Herzen liegt. Deshalb haben wir diesen Weg beim Schlussplädoyer gewählt. Bereits das Notieren und mir Gedanken machen haben mich sehr belastet. Der ganze Schmerz ist wieder aufgebrochen. Jede Teilnahme an den Prozesstagen, die Tage davor und danach, haben mich unheimlich viel Kraft gekostet und wieder an die Zeit der Tat zurückgeworfen. Trotzdem wollte ich an einigen Terminen lieber dabei sein, selber sehen und hören was gesprochen wurde, anstatt danach die Schilderung nur aus der Presse zu erfahren.
Ich möchte beginnen mit der Geburt von Rouven. Sein Start ins Leben war nicht einfach.
Er musste unmittelbar nach der Kaiserschnittgeburt und doppelt geschlungener Nabelschnur um den Hals aufgrund Anpassungsstörungen und Atemproblemen mit dem Rettungswagen zur nächsten Kinderklinik transportiert werden. Diese Tage waren für mich eine emotionale Achterbahnfahrt. Freude über einen Jungen und dann die Angst, was passiert da gerade. Das erste Mal sehen konnte ich ihn dann erst dort in der Kinderintensivstation, er lag im Inkubator mit Schläuchen am ganzen Körper, ich durfte ihn erst nach 3 Tagen auf den Arm nehmen. Es waren bedrückende Tage für uns, wir haben gehofft und gebetet, als er sich ins Leben gekämpft hat. Mein Mann und ich gaben ihm deshalb den Zweitnamen Keno, das bedeutet der Mutige, der Kühne oder auch der gute Ratgeber. Welche Bedeutung diese spontane Entscheidung mit seinem Namen noch für ihn haben würde, hätten wir uns niemals vorstellen können.
1o Tage später an Heiligabend durften wir dann zusammen die Klinik verlassen.
Rouven ist unser mittleres Kind, er hat noch eine jüngere Schwester, die das Leben ohne ihn gar nicht kannte und eine ältere Schwester.
Sie wuchsen auf dem Land in einem ruhigen Ort mit großem Garten naturverbunden am Waldrand auf. Die drei hatten untereinander ein sehr inniges Verhältnis, welches bis heute anhält. Rouven war ein aufgewecktes fröhliches Kind. Seit er in Heidelberg wohnte, hatte er sich ein eigenes Leben aufgebaut. Schon immer wollte Rouven als Beruf nur zur Polizei. Für ihn gab es keinen Plan B. Nach dem Abitur hatte er nur diese eine Bewerbung geschrieben für die Polizei. Er kletterte sehr schnell die Karriereleiter hinauf, war mit 29 Jahren schon Polizeihauptkommissar. Er wollte mitwirken, verändern und verbessern, wo es nötig war. Er war mutig und immer da, wenn er gebraucht wurde. War er von einer Sache überzeugt, so setzte er sich mit ganzem Herzen ein. Ich würde sagen, er identifizierte sich richtig mit seinem Beruf, das erfüllte ihn nicht nur beruflich, sondern auch persönlich. Er beschwerte sich nie über die vielen Schichtdienste. Er schätzte auch, dass hier jeder ohne Angst vor Verfolgung seine Meinung sagen darf. Deshalb war es für ihn auch selbstverständlich, die Veranstaltung von Herrn Stürzenberger zu schützen.
Rouven wollte ganz nach oben. Deshalb bewarb er sich für das Sichtungsverfahren für den Höheren Dienst und bereitete sich gewissenhaft darauf vor. Er war im sogenannten Umlauf. Das sind verschiedene Abteilungen, die man durchlaufen muss, um dann in einem Assessmentcenter für das Studium zum höheren Dienst zugelassen zu werden. Kurz nach der Tat erfuhren wir von der Landespolizeipräsidentin, dass unser Sohn vorgesehen war für diesen Weg und dass man Großes mit ihm vorhatte. Rouven hat das leider nicht mehr erfahren dürfen. Uns macht das stolz und so wahnsinnig traurig zugleich.
Und er durfte auch nicht mehr erleben, dass Frau Schäfer, die er menschlich sehr schätzte und deshalb hoffte, dass sie die nächste Polizeipräsidentin und damit seine neue Chefin wird, kurz nach dem Attentat ihre Ernennung erhielt. Seine letzte Station im Umlauf hatte er sich selbst ausgesucht. Er stand vor der Wahl Einsatzzug Mannheim oder Autobahnpolizei. Bloß nicht Autobahnpolizei sagte er. Er wollte lieber nochmal in den Brennpunkt, dorthin wo er etwas bewegen konnte.
Rouven war sehr gerne in seinen jeweiligen Dienststellen draußen mit den Kolleginnen und Kollegen unterwegs. Im Team gut zusammenzuarbeiten war ihm sehr wichtig. Er ging stets mit Freude zu seinen unterschiedlichen Schichten. Die Polizei wurde für ihn zur zweiten Familie. Er erzählte gerne von gemeinsamen Kochabenden auf dem Revier. Auf seinen beruflichen Stationen lernte er gute Freunde kennen, mit denen er Freizeit und gemeinsame Urlaube verbrachte. Rouven wurde durch seine spontane und lockere Art von allen gemocht und wertgeschätzt. Er konnte sehr gut deeskalierend reagieren. Er konnte aber auch angemessen durchgreifen, wenn es nötig war.
Kommunikation auf Augenhöhe war ihm wichtig und ein respektvoller Umgang miteinander. Er betonte stets, ohne diesen Respekt gibt es keine Lösung. Er unterschied nicht zwischen Dienstgraden oder Nationalität. Er war das Ideal für diesen Beruf, er hatte Disziplin und ist dabei Mensch geblieben. Rouven war auch wichtig, sozial benachteiligte Menschen zu sehen. Ich erinnere mich an eine Unterhaltung mit ihm, als wir über Obdachlose redeten. Er erzählte mir, dass er manchmal diesen Menschen eine Kleinigkeit gibt, wenn sie nicht Banden angehören. Einer dieser Obdachlosen schickte uns eine Karte. Er schrieb, er hätte so geweint, als er von Rouvens Tod erfuhr, Rouven hätte ihm ab und zu etwas Geld gegeben. Auch über Migration sprachen wir zwei oft und wo man ansetzen könnte, um die Probleme besser in den Griff zu bekommen. Um andere Kulturen besser zu verstehen, lernte er im Abendkurs seit mehreren Jahren arabisch.
Mein Sohn hatte seinen Weg gefunden und mich trotzdem ab und zu um Rat gefragt. Wir hatten absolutes Vertrauen zueinander. Es fehlen mir so sehr seine Gespräche mit ihm. Und dass ich ihn nicht mehr einfach so anrufen kann, überhaupt nie mehr anrufen oder kurz schreiben kann. Das vermissen auch meine Töchter und mein Mann. Obwohl er als mein Sohn soviel jünger ist als ich, war er ein wertvoller, fast weiser, Gesprächspartner für mich. Er meinte oft zu mir: Mach dir nicht um alles so viele Gedanken und Sorgen. Schon wenn er zur Tür hereinkam saßen wir kurze Zeit später am Esstisch und haben über Gott und die Welt und aktuelle Themen diskutiert. Dabei hatte er allein schon vom Beruf her mehr Hintergrundwissen, was die Gespräche mit ihm so spannend machten. Auch wenn wir oft unterschiedlicher Meinung waren. Solange ich Fakten, Quellen und gute Argumente hatte, konnten sich unsere Diskussionen lange hinziehen. Er sagte stets zu mir, informiere dich nicht einseitig, lies auch in der Weltpresse, was aktuell passiert und hinterfrage die Dinge.
Immer wieder bewunderte ich bei ihm diesen Respekt vor anders Denkenden und die Wertschätzung, die er diesen Menschen gleichzeitig zeigen konnte. Rouven versuchte stets zu verstehen, warum was passiert und warum wer wie handelt. Er konnte sich sehr aufregen, wenn jemand nur irgendetwas nacherzählte und sich keine Gedanken gemacht hatte.
Wenn ich unseren Sohn beschreiben würde, fällt mir dazu ein: authentisch, positiv, voller Lebensfreude und Selbstvertrauen, mutig, tolerant, schnelles Begreifen und stets fokussierter Blick auf die wichtigen Dinge. Seine klaren blauen Augen, die einem so zuversichtlich anschauen konnten.
Er hat viel und gerne gelacht. Seine positive Art die Welt zu sehen, fehlt uns jeden Tag so sehr.
Eines seiner Lebensmottos war, du hast jeden Morgen erneut die Chance zu entscheiden, ob du ein guter oder ein schlechter Mensch sein willst. Möchte ich ein guter Mensch sein, dann handle ich auch danach. Das galt für ihn für alle Menschen. Er war auch überzeugt davon, wenn sich alle an das Grundgesetz halten würden, also wirklich jeder, der hier lebt, dann hätten wir viele Sorgen weniger.
Mein Sohn war vielseitig interessiert und hatte die richtige Balance zwischen seinem Beruf und seiner Freizeit genießen gefunden. Sport und gesunde Ernährung hatten einen ganz hohen Stellenwert bei ihm. Weil er so leidenschaftlich gerne kochte, bekam er von uns zu seinem letzten Weihnachten ein Kochbuch und passende orientalische Gewürze, die man normalerweise nicht im Schrank hat. Er freute sich riesig darüber und schickte mir dann ein Foto, wie er noch ein Gewürzregal extra dafür aufhing. Jetzt stehen die Salzzitronen, der schwarze Knoblauch, Sumach und die anderen Gewürze bei uns im Schrank und immer, wenn ich sie zum Kochen nehme ist mir zum Weinen. An seinem letzten Geburtstag hatte er Dienst und wir konnten nicht zusammen feiern. Deshalb überraschte er uns am Wochenende danach mit einem leckeren Essen. Die Zutaten dafür brachte er alle im Korb mit und er bereitete das Essen mehrere Stunden bei uns in der Küche zu.
Als kleiner Junge war er schon im Fußball, danach im Kickboxen. Rouven ging regelmäßig ins Fitnessstudio. Wenn sein Dienst es nicht anders zuließ, war er auch morgens um 5 Uhr schon dort. Wir bewunderten ihn für diese Disziplin.
Ab und zu machte er auch Crossfit-Training mit seinen Kollegen. Im letzten Winter wurde Rouven auf der Crossfit Webseite der USA ein eigenes Heros Workout of the day gewidmet. Dieses Hero-Workout ist ein hochintensives, körperlich forderndes Fitness Programm und dient dem Gedenken und der Wertschätzung im Dienst gefallener heldenhafter Soldaten, Feuerwehrleuten und Polizisten und wurde auch in deutschen Studios schon von seinen Polizei Kollegen und Freunden absolviert. Er ist der einzige Deutsche auf dieser Liste, was eine große Ehre ist.
Rouvens Vater und seine große Schwester fuhren leidenschaftlich mit ihm anspruchsvolle Trails in Heidelberg oder Eberbach. Sie waren oft auf schwierigen Trail Abfahrten unterwegs. Sogar mich konnte er ermutigen und anspornen, so dass ich mir zutraute, über schmale steile Waldwege über größere Steine und Baumwurzeln nach unten zu fahren, was ich mich ohne seine motivierenden Worte niemals getraut hätte.
Mit Begeisterung fuhr er auch Snowboard mit seinen Schwestern oder auch seiner Freundes Gruppe, mit der er jeden Winter viel Spaß bei Sonnenschein und Schnee verbracht hat.
Auch Reisen und die Welt entdecken begeisterten ihn. Fremde Kulturen kennenlernen und verstehen. Oder Freunde besuchen, die es beruflich in andere Städte und Länder verschlagen hatte.
Zu Rouvens Freunden haben wir sehr guten Kontakt, deshalb wissen wir, dass er auch ihnen sehr fehlt.
Er unternahm regelmäßig Klettersteigtouren mit einem Freund, und auf einigen Fotos lachen die beiden stolz am Gipfelkreuz in die Kamera.
Im Herbst plante er mit einem weiteren Freund eine Reise nach Ägypten, um dort das Tauchen zu erlernen. Außerdem besuchte er mit einem anderen Freund regelmäßig Festivals und Clubs, um gemeinsam die Musik zu genießen. Dieser Freund wurde bald nach der Tat Vater eines Sohnes, das durfte Rouven leider nicht mehr erleben.
Sechs Freunde aus der Schulzeit ließen sich zu seinem 30. Geburtstag im letzten Dezember dasselbe Tattoo stechen: Sieben aneinandergereihte Kreise, von denen sechs ausgefüllt sind, der mittlere jedoch ist leer. Mehr braucht es eigentlich nicht zu sagen. Alle vermissen die unbeschwerten Zeiten mit ihm, sein offenes Ohr, seinen Rat und die gemeinsamen Feste. Rouven gab stets sein Bestes, wenn ein Familienmitglied oder Freund Probleme hatte, und war immer für sie da.
Nun möchte ich Ihnen erzählen, wie wir als Familie den 31. Mai 2024 erlebt haben. In meiner Erinnerung beginnt alles mit einer Mitteilung von NTV auf meinem Handy, die ich zufällig sah. In Mannheim hätte es einen Messerangriff gegeben. Es war zur Mittagspause und ich war allein im Geschäft. Da wir von Rouven wussten, dass er dort einen Einsatz hatte, versuchte ich, mehr darüber zu erfahren. Ich schickte ihm eine WhatsApp Nachricht, ob es ihm gut geht. Die Frage steht heute noch unbeantwortet in unserem Chat, den ich nicht übers Herz bringe zu löschen. In Facebook las ich dann, es gäbe schon ein Video darüber. Als ich es fand, musste ich es mir mehrmals ansehen um auch zu glauben, was ich da auf dem kleinen Bildschirm sah. Als ich die Schreie der Kolleginnen hörte: Messer weg, kümmert euch um Rouven, Rouven ist verletzt, er blutet, da ist zum ersten Mal die Welt für mich stehen geblieben. Meine Hände begannen so zu zittern, ich konnte kaum die Tasten am Handy tippen um meinen Mann und meine Töchter anzurufen. Bald darauf kamen Polizisten in Zivil und Notfallseelsorger um unsere große Tochter und mich nach Mannheim zur Klinik zu fahren. Zu diesem Zeitpunkt wurde er schon operiert wird und es bestand für mich die Hoffnung, dass es nicht so schlimm sein wird, da man am Ende des mir damals bekannten Videos sieht, dass Rouven wieder aufsteht. Mein Mann wollte deshalb erst alles im Geschäft ordnen und später nachkommen. In Mannheim in der Neurochirurgie angekommen wurden wir in einen separaten Raum gebracht, wo sich weitere Seelsorger und Polizeikollegen um uns kümmerten. Nach 2 oder 3 Stunden wurde uns geraten, mein Mann solle kommen. Wir waren da noch optimistisch, dass man die Verletzungen des Gehirns mit Reha und Geduld wieder heilen kann. Stündlich wurden dann die Prognosen schlechter, wir erhielten immer wieder Updates von sehr einfühlsamen Ärzten. Sie unternahmen alles Menschen Mögliche für Rouven, aber dann rannten sie der Situation nur noch hinterher wie der behandelnde Arzt sich ausdrückte. Dann sagte man uns, Rouven hätte Blutungen die sich nicht stoppen lassen, 32 Blutkonserven, also 16 Liter Blut hatte er inzwischen bekommen. Das Messer hatte außer der Arterie einfach zu viele Venen zerfetzt, die nicht mehr zusammenzunähen waren und er hatte einen irreparablen Hirnschaden durch die Hirnschwellung und Unterversorgung der linken Gehirnhälfte. Wir müssten uns darauf vorbereiten, dass er bald sterben würde. Alles war so schrecklich und unwirklich. An diesem Tag blieb für mich zum zweiten Mal die Welt plötzlich stehen. Es fühlte sich an, als würde ich rückwärts ins Bodenlose fallen, wie in einem Albtraum, aus dem ich einfach nicht mehr erwachen konnte. Irgendwann traf auch unsere jüngste Tochter aus München ein und dann noch unser Schwiegersohn. Die Stunden zogen sich quälend lang hin, bis wir endlich nach 22 Uhr zu ihm durften.
Niemals werde ich diesen Anblick vergessen. Es hat sich in meine Seele gebrannt, wie mein Sohn mit seinem großen starken Körper so hilflos dalag, beatmet durch eine Maschine und ums Überleben kämpfte. Er war in einem tiefen Koma, hatte seine Augen geschlossen und sie auch nicht mehr geöffnet. Wir konnten nichts für ihn tun, als einfach nur bei ihm sein. Und wir waren immer bei ihm, Tag und Nacht und haben seine Hände gehalten. Mit ihm geredet und für ihn gebetet, zusammen mit Ärzten, die alles gegeben haben. Wir wurden ständig von sehr mitfühlenden Ärzten über die nächsten Schritte informiert. Wir wussten nicht, was kommt durch das Koma noch bei ihm an, hört er uns vielleicht doch noch?
Wir spielten dann seine Lieblingslieder auf dem Handy ab, unter anderem These Days von den Foo Fighters, dieser Song hatte seinen Vater schon vor Jahren mit Rouven verbunden. An die anderen Titel, die uns seine Freunde zwischenzeitlich schickten, erinnere ich mich nicht mehr. Das war so surreal, so unwirklich und voller Schmerz, es fehlen mir die Worte dafür zum Beschreiben.
Es war eine sehr intensive Zeit für unsere Familie. Einerseits eine tiefe Intimität zusammen, das gute Gefühl, sich aufeinander verlassen zu können. Dann aber die traurige, beinahe nicht auszuhaltende Gewissheit, dass mein Sohn bald sterben wird. Diese Tage im Krankenhaus werde ich zeitlebens nicht vergessen.
Es war ein aussichtsloser Kampf für meinen Sohn, er hatte keine Chance. Vor allem den langgezogenen verzweifelten lauten Schrei meiner jüngeren Tochter, als Rouven aufhörte zu atmen, werde ich in Gedanken immer wieder hören. Da stand die Welt zum dritten Mal still für mich. Für uns alle war es das erste Mal, dass wir Sterben so miterleben durften. Diese Erinnerung wird mich einerseits ein Leben lang begleiten, andererseits war es für uns alle wichtig, dabei zu sein um zu begreifen, er ist tatsächlich gestorben. Das Leben meines Sohnes hat auf der Intensivstation mit Schläuchen am Körper begonnen und auch geendet.
Wir mussten dann schon ein paar Tage nach dem Attentat in seine Wohnung, um diese leerzuräumen. Die Tür zu öffnen und sie zu betreten, um dann über seine Sachen zu entscheiden ging fast über meine Kraft. Ich wusste, er war tot und inzwischen in der Pathologie, aber trotzdem war er noch so lebendig in meiner Erinnerung, vor allem als ich das aufgeschlagene Arabisch Buch mit Bleistift und Zettel mit Notizen auf seinem Tisch erblickte. Am liebsten wäre ich wieder zur Tür raus und weit weg irgendwohin geflohen. Es fühlte sich so falsch an, seine Sachen auszusortieren.
Es kam dann nach einer Woche die Gedenkminute auf dem Mannheimer Marktplatz mit einer riesigen Menschenmenge und eine Woche später der von der Polizei organisierte Trauerzug durch die Stadt mit der anschließenden öffentlichen Trauerfeier im Mannheimer Rosengarten. Dabei fühlte ich mich wie innerlich dauerbetäubt und hatte auch keine Tränen. Ich lebte wie im Nebel. Es nahm für uns Dimensionen an, wir konnten alles gar nicht mehr begreifen. Die Anteilnahme wurde mehr und mehr, sie ging sogar über Deutschland hinaus. Sehr sehr viele Menschen bekundeten uns schriftlich ihre tiefe Anteilnahme. Angehörige der Polizei, Schulklassen, Menschen der unterschiedlichsten Nationalität schrieben uns, darunter auch viele Afghanen und Muslime, die gut integriert hier leben und die die Tat verurteilten. Wir brauchten mehrere Wochen, um jeden Brief zu lesen, es waren einerseits sehr schwere Tage für mich, dennoch berührte es mich sehr, dass so viele Menschen an Rouvens und unserem Schicksal teilnahmen.
Nachdem wir erfuhren, dass der Täter in die JVA hier her verlegt wurde, fuhren mein Mann und ich an einem Sonntag vor Prozessbeginn nach Stammheim, um die JVA und das Gericht von außen zu sehen, damit ich bei Prozessbeginn etwas vorbereitet bin. Ich hatte vorher noch nie ein Gefängnis außerhalb des Fernsehers gesehen. Als ich die riesig großen Metalltore und die doppelten Stacheldrahtrollen über den hohen Mauern sah, bekam ich einen Weinkrampf. Ich war völlig überfordert und verzweifelt bei dem Anblick. Ich kann gar nicht beschreiben, welche Gefühle da über mich kamen, es wurde mir wieder so schmerzhaft bewusst, dass mein Sohn ermordet wurde, dass alles doch real ist und wirklich passiert.
Es passiert mir auch heute noch, wenn mir ein blau-gelbes Polizeiauto entgegenkommt, dass ich schaue und hoffe, Rouven darin zu sehen. Oder ich sehe einen jungen großen Mann mit ähnlicher Frisur, dass ich warte, bis er sich umdreht um dann schmerzhaft zu erkennen, dass es doch nicht Rouven war. Dann sage ich mir, du bist doch verrückt, was machst du da, du weißt doch was passiert ist, dein Sohn ist tot, ermordet, er kommt nicht mehr.
Neulich wartete im Drogeriemarkt vor mir an der Kasse eine Mutter mit einem ca. 2- jährigen Jungen auf dem Arm, der mich immer wieder anschaute und ich ihn auch. Er sah identisch aus wie Rouven als Kind, gleiche Haarfarbe, gleicher Haarschnitt. Da fuhr es mir vom Bauch in den Kopf und wieder runter, die Tränen liefen mir einfach heraus und ich konnte sie nicht aufhalten, der Schmerz war wieder da und mein Kopf dachte wieder, was hat man ihm angetan, dass er nicht mehr leben darf. Um mich wieder zu fangen, wechselte ich an eine andere Kasse.
Rouven ist so lebendig in unserer Erinnerung. Wenn wir Videos mit ihm sehen, zerreißt es mir beinahe das Herz, ist das fast nicht auszuhalten und schwer zu akzeptieren, dass das vergangen ist und nie mehr wiederkommt. Ich könnte schreien, warum ist das passiert? Warum ist jetzt nichts mehr wie es war? Ich stehe morgens auf, sehe sein Bild auf dem Regal und denke, du bist jetzt fort, für immer weg. Nein, das kann nicht sein, sagt eine Stimme. Doch sagt mein Kopf, du hast es gesehen, dass er umgebracht wurde. Du weißt was passiert ist. Wir vermissen Rouven alle so sehr. Er kam so gerne heim. Dann genoss er es im sonnigen Garten zu entspannen oder eine Runde durch den Wald zu joggen. Er fehlt am Familientisch beim wöchentlichen gemeinsamen Essen und draußen Grillen, bei jedem Geburtstag, bei jedem Familienfest. Jeder von uns will seinen eigenen Geburtstag eigentlich übergehen und als Tag wie jeden anderen sehen. Seine Geschwister und er konnten sich immer alles anvertrauen. Seinen Schwestern fehlt, dass sie ihn nicht einfach anrufen und reden können. Oder seinen Rat bekommen. Seit seine kleine Nichte geboren wurde, war es ihm noch wichtiger, uns regelmäßig zu besuchen. Er hat sich so liebevoll und aufmerksam um sie gekümmert. Sie will jetzt immer schaukeln bis in den Himmel hoch zu Rouven. Wenn wir an seinem Grab stehen fängt sie an zu fragen, warum Rouven gestorben ist. Noch reicht es ihr, wenn wir antworten, ein böser Mensch hat ihm das Leben genommen. Sie frägt bisher nicht weiter nach. Wir erzählen ihr viel von ihm, damit sie ihn nicht irgendwann vergisst. So wie er gerne mit seiner Nichte gespielt und sich über ihre Fortschritte gefreut hat, wäre er auch ein perfekter fürsorglicher Vater geworden. Dieses Erlebnis wurde ihm leider genommen. Und auch wir werden keine Enkelkinder von ihm bekommen. Es tut sehr weh, wenn ich daran denke. Er hat auch nicht mehr erfahren dürfen, dass er demnächst wieder Onkel wird.
Rouven hatte kurz vor seinem Tod begonnen, in unserem Garten eine Feuerstelle zu gestalten. Leider blieb ihm nicht mehr die Zeit, sie fertigzustellen. Zum Jahrestag des Attentats haben wir sie nun gemeinsam mit seinen Freunden zum ersten Mal benutzt – ein besonders emotionaler Abend, an dem wir gemeinsam an ihn dachten und von ihm erzählten.
Jeder in unserer Familie verarbeitet den Mord und die Zeit danach unterschiedlich. Wir bekommen alle psychotherapeutische Begleitung angeboten und ich nehme dies dankend an und gehe regelmäßig hin. Ich bin eigentlich ein positiver optimistischer Mensch. Doch es gibt Tage, die vergehen, an denen ich einfach nur funktioniere. Bei mir ist es so, dass mich die Zeit verlassen hat, ich habe gar kein Zeitgefühl mehr, die Tage die vergehen, vermischen sich. Am Anfang wusste ich nicht, ist es Tag oder Nacht, schlafen konnte ich, wenn überhaupt, nur maximal 2-3 Stunden.
Schlafprobleme habe ich immer noch. Wenn ich dann einschlafe und bald danach wieder aufwache, wird der Schmerz, dass mein Sohn fehlt, wieder so präsent. Besonders schwer fiel mir, wieder einen geregelten Tagesablauf zu bekommen. In meinem Alltag gibt es Momente der Trauer, Wut und Verzweiflung, gemischt mit einem langanhaltenden Schmerz, der mich immer wieder unerwartet trifft. Mein Mann wurde nach dem Mord an unserem Sohn seelisch so krank, dass er nicht mehr die Kraft fand, seinen Beruf auszuüben. Nachdem sich auch nach Monaten bei ihm keine Besserung einstellte, mussten wir unser Geschäft, mit dem wir im Herbst unser 25 -jähriges Bestehen feiern wollten, und dafür schon vieles geplant hatten, schweren Herzens schließen. Ich verlor dadurch meine Arbeitsstelle und damit das, womit ich sonst mit Freude die Woche verbracht habe.
Es ist mir bewusst, dass es noch ein langer Weg zur Normalität ist, und ich versuche anzunehmen, dass das, was passiert ist, nun zu unserem Leben gehört. Dass wir in der Öffentlichkeit oft nur noch als Vater, Mutter oder Schwester vom ermordeten Rouven wahrgenommen werden, auch damit müssen wir lernen zu leben. Ich bin dankbar für Freunde, mit denen wir jederzeit über alles reden können, wenn die Belastung zu groß würde.
Bildhaft erinnere ich mich bis an den Tag vor dem Attentat, als wir gemeinsam noch ein harmonisches Abendessen zusammen hatten und Rouven mit seiner kleinen Nichte im Hängesessel schaukelte. Wir unterhielten uns noch über dieses und jenes und mein Sohn verabschiedete sich danach von uns mit den Worten: Wisst ihr eigentlich wie schön ihr es hier auf dem Land habt, die Luft riecht so gut. Er lachte dann, umarmte uns, sagte Tschüss, bis bald und er ging um die Hausecke zu seinem Auto. So habe ich meinen Sohn das letzte Mal gesund und lebend gesehen. Die Monate vor der Tat sind seitdem wie ausradiert. Nur Bruchstücke erscheinen ab und zu. Dafür habe ich andere Bilder im Kopf, die sehr viel Raum einnehmen. Das ist die Zeit mit unserem Sohn im Krankenhaus, das große blutverschmierte Messer und der Moment, als der Täter gezielt und mit großer Wucht hinterrücks zustach und der schwindende Blick meines Sohnes danach.
Erst jetzt nach über einem Jahr fand ich die Kraft und den Mut, das Video in ganzer Länge vergrößert anzusehen. Langsam tastete ich mich durch die grausamen Szenen. Wie mein Sohn seinem Mörder den Rücken zuwandte und wehrlos am Boden kniete und der Täter ihm blitzschnell gezielt, feige und hinterrücks das große Jagdmesser durch die Schutzweste in die Lunge und dann in den Kopf rammte. Ein Messer mit einseitig gezackter Schneide, das beim Herausziehen Gewebe und Blutgefäße verletzt. Vom Täter extra gekauft um damit größtmöglichen Schaden anzurichten. Ich sah, wie mein Sohn sich nach den Stichverletzungen die Hand an die Kopfwunde hielt, wie sie immer blutiger wurde. Ich sah, dass er wieder aufstand, seinen erstaunten Blick, der immer verschwommener wurde, dann taumelnde Schritte, wie er noch zu seinen Kollegen und zum Täter schaute und seinen Gesichtsausdruck, wie er von Kollegen gestützt, immer mit der blutigen Hand am Kopf, sich nicht hinlegen wollte, wie sein Kopf langsam sank und er schließlich zusammensackte.
Dass ich so nachträglich seine letzten Minuten, die er bei Bewusstsein war, miterlebt habe, hilft mir bei der Verarbeitung. Um zu begreifen, um wirklich zu verstehen, um zu realisieren, dass das passiert ist. Dann weiß ich wieder warum mein Sohn sterben musste, er nicht mehr lebt und er nie mehr mit uns sein kann, wenn wir als Familie was unternehmen, was uns alle verbunden hat, wie gemeinsames Mountainbiken, Grillen, Stand-Up-Paddel, Lachen, miteinander reden, spazieren gehen oder zum Spielplatz laufen mit seiner Nichte. Und wenn ich dann nicht sofort gegensteuere ist es sehr schwer für mich zum normalen Tagesablauf zurückzufinden.
Dass jemand sowas Brutales einem anderen Menschen antut, er sogar mehrere Menschen töten wollte, ist alles so unfassbar schwer zu ertragen. Wenn dein Kind vor dir stirbt, ist das gegen die Natur. Und wenn es dann noch so grausam sterben muss, ist der Schmerz fast nicht auszuhalten. Die Gefühle, die ich dabei empfinde, wünsche ich keiner Mutter, dass sie das jemals erleben muss. Und immer wieder frage ich mich, was hat Rouven mitbekommen, gefühlt, gedacht?
Mein Sohn ist weg, einfach weg wegen einer verblendeten Person, die ihre Gefühle nicht unter Kontrolle halten konnte. Die für ihre Unzufriedenheit, Langeweile und Probleme Schuldige in Deutschland suchte und zum Täter wurde. Der mit einer solchen Entschlossenheit und Brutalität rasend schnell mehrere Menschen niederstach und in der Ermordung meines Sohnes, den der Täter als Polizist erkannte, den Höhepunkt sah.
Ganz schwer auszuhalten für mich ist auch die Vorstellung, was Rouven genommen wurde. Ihm wurde alles genommen, sein Leben, das er genossen hat, er war erst am Angang davon. Er hatte noch soviel vor, für sich, mit seinen Freunden, er hatte sein Leben im Griff und er war voller Pläne. Er wollte durchstarten, auch beruflich. Durch die Tat am 31. Mai wurde auch von uns, seinem Vater, seinen Geschwistern und mir ein Stück weggeschnitten, auch wir sind durch die Tat Opfer geworden. Jeder von uns verlor Lebenszeit im letzten Jahr und auch jetzt noch durch das Zurechtkommen mit der neuen Situation. Wir müssen nun gemeinsam nach Wegen suchen, unsere traumatisierte Familie neu sortieren. Es gibt keine normalen unbeschwerten Tage mehr. Wir sind zufällig Opfer geworden. Man hat uns nicht gefragt. Wir müssen lernen, damit umzugehen, wir haben keine andere Wahl.
Der feige hinterhältige Mord hat in vielen Familien großes Leid erzeugt. Neben uns sind unzählige weitere Menschen mit dem Messerattentat konfrontiert, seelisch und körperlich. Den Fähigkeiten der Ärzte ist es zu verdanken, dass es nicht noch mehr Tote gab. Besonders Rouvens Kolleginnen und Kollegen vom Einsatzzug, viele noch sehr jung, und deren Angehörige, müssen ihr Leben lang mit dem Grauen fertigwerden und verarbeiten, um ihren Beruf weiter mit vollem Einsatz ausüben zu können. Auch die anderen Kollegen vom Präsidium Mannheim, eigentlich alle Polizisten sind mit der Bewältigung betroffen, wie wir hier vor ein paar Wochen von der Polizeipräsidentin erfahren haben. Wir bekamen nach dem Attentat viele anteilnehmende Briefe von Angehörigen der Polizei, Polizistenmüttern und Ehefrauen. Sie fühlen mit uns und schrieben, das hätte ihnen auch passieren können und wie sie ab jetzt die Angst begleitet, wenn ihre Angehörigen zum Dienst aufbrechen.
Wie Hohn klingt es da, wenn die Ehefrau des Täters, die bei entscheidenden Fragen des Senats die Aussage verweigerte, dann betont, wie dankbar sie der Polizei sei, die sie nach der Tat vor Beleidigungen schützte und sie begleitete. Ich suche Frieden in dem Gedanken, dass mein Sohn nicht umsonst gestorben ist, dass sein Leben gesehen wird und dass sein Tod zu einer Veränderung führt. Wenn wir heute entscheiden dürften, im Namen unseres Sohnes, unseres Bruders, unseres Freundes Rouven, dann nur mit einer Botschaft: Lebenslang. Und das meinen wir wörtlich. Keine Freiheit mehr. Keine Rückkehr in ein normales Leben. Nie! mehr.
Denn auch wir haben lebenslang bekommen und diese Tat hat unser Leben für immer verändert.
Rouven wurde alles genommen: seine Zukunft, seine Träume, seine Pläne, seine Liebe zum Leben. Und uns wurde unser geliebter Sohn und Bruder genommen. Und nichts wird ihn mehr zurückbringen.
Wir bitten Sie: Sorgen Sie für Gerechtigkeit. In Namen von Rouven, im Namen all jener, die für immer unter dieser grausamen Tat leiden. Damit nicht irgendwann nochmals Familien zerstört werden.
Anmerkung der Redaktion: Das Statement wurde uns in Schriftform von der Familie Laur zur Verfügung gestellt.
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