Mannheim. Als ich 16 war, bin ich viel mit Freunden feiern gegangen. Als mein Großvater 16 war, ist er in den Krieg gegangen. Freiwillig. Nicht mal ein Jahr vor Kriegsende. Kein Wunder, dass wir einander nicht immer verstanden haben. Im November ist er gestorben – und hat mir etwas sehr Persönliches vermacht: ein abgegriffenes Buch, die Zeilen in Schreibschrift eng beschrieben. Jahrzehnte nach dem Krieg hat er es gefüllt. Immer, wenn Erinnerungen ihn um den Schlaf gebracht haben.
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Es war ein kurzer Abschied zu Hause im Juni 1944. Bin bald im Urlaub bei euch, sagte ich. (...) Weit über fünf Jahre hat es gedauert, bis ich mein Heimatdorf wiedersah.
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Mein Großvater erzählt von seinem Aufbruch, der Fahrt ins Ostsudetenland, von der Ausbildung bei der Wehrmacht und im Reichsarbeitsdienst in Potsdam. Dann kommt er an seinen Standort bei Elbing in Westpreußen, wo er schon bald den ersten Angriff der Russen erlebt.
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Wir haben ihn abgewehrt, keine Verluste. Aber ein russischer Soldat blieb vor der Stellung liegen. Wir sollten ihn dahinter tragen – ich konnte mich nicht daran beteiligen. Der Zugführer hatte für mich Verständnis. Ich war zu weich. Aber das wurde bald anders.
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Es schaudert mich, wenn ich den letzten Satz lese. Ich habe Opa vieles gefragt – aber nie, ob er Menschen erschossen hat. Oder wie überzeugt er als Jugendlicher vom Nationalsozialismus war. Stattdessen habe ich mich beruhigt: Er war fast noch ein Kind. Er wählt SPD. Er hat seine Kinder und uns Enkel weltoffen erzogen. Aber reicht das als Antwort? Und: Darf ich darüber urteilen?
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Überall machten die Russen Propaganda mit Lautsprechern: „Soldaten, ergebt euch, dann ist der Krieg für euch aus.“ Wir haben nicht daran geglaubt. Uns war immer erzählt worden, die Russen machten keine Gefangenen, sondern sie erschießen gleich.
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Drei Monate vor Kriegsende traf ein Scharfschütze meinen Großvater am Kopf. Ein Streifschuss. Er landete im Lazarett, aus dem ihn russische Soldaten in die Gefangenschaft holten. Opa schrieb nüchtern auf, was passiert ist. Verschwieg, wie es ihm dabei ging. Über Gefühle zu reden, war nie seine Stärke. Psychologen wie mein Bruder waren was „für andere Leute mit echten Problemen“.
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Wir mussten uns bis auf die Haut entkleiden. Eine Tracht Prügel gab es auch noch. (...) Auf dem Weg durch Polen wurden wir Gefangenen von der polnischen Bevölkerung oft geschlagen und bespuckt. (...)
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Ende April ’45 kam er nach Dünaburg in Lettland. Dort arbeitete er in der Schlosserei des Lagers. Er stellte „Essensbüchsen“ aus Konservendosen her für die Mahlzeiten: „Wassersuppe mit 400 Gramm Brot“. Lange ging das ganz gut – bis zu dem Tag, an dem ein Loch für ein Fenster in die Werkstattwand gebrochen wurde.
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Man konnte auf eine Straße schauen, die Bäume und Sträucher waren grün. Ich sah dort Zivilisten gehen – in dem Moment hat mich das Heimweh gepackt. Ich war richtig krank, habe groß nichts mehr gearbeitet, essen ließ nach und ich nahm ab.
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Erst nachdem ihm ein Kollege den Kopf gewaschen hatte, wurde es besser. Bald kam der Tag, den er nie mehr vergessen würde: der 12. Oktober 1945, sein 18. Geburtstag. Seit Tagen warteten Gefangene auf einen Transport, viele Kranke unter ihnen. Der Zug, hieß es, soll nach Hause gehen. Großvater war dabei. Ausgerechnet an seinem 18. Geburtstag – was für ein Geschenk. Oder?
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Alle Fenster der Waggons waren mit Brettern zugenagelt. (...) Jetzt kamen schon die ersten Stimmen auf: Wir fahren gar nicht nach Hause. Andere widersprachen. Der Russe sei misstrauisch, die Vergitterung wird bleiben, bis wir in Deutschland sind. (...) Als es Tag war und man durch die Ritze schauen konnte, sagte ein Offizier, der im Nordabschnitt gewesen war: „Wir fahren in nordöstliche Richtung.“ (...) Er kannte sich gut aus, er behielt auch recht: Wir kamen in Estland an.
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An dieser Stelle im Buch muss ich jedes Mal wieder schwer schlucken. Doch es stehen auch andere, hoffnungsvollere Geschichten darin: Mein Großvater hatte sich etwa mit Dmitri angefreundet, einem jungen Mann, der im Gefangenenlager arbeitete. Er nahm meinen Großvater sogar heimlich – und dank eines nachsichtigen Wachmanns – mit zu sich nach Hause.
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Die Tante fing mit polternder Stimme an zu schimpfen. Ich höre es heute noch: Wie kannst du einen Deutschen mit hierher bringen? Die uns alles zerstört haben? Die Familie kam aus der Ukraine. (...) Dann sagte ich zu der Tante, ich könne doch auch nichts dazu, dass Krieg gewesen war. Ich sei so alt wie Dmitri und hätte von zu Hause weggehen müssen. Ich wüsste nicht, ob meine Eltern noch lebten. Auf einmal war die Tante wie ausgewechselt. Ich musste ins Haus kommen, sie stellte Brot, Kartoffeln und Milch auf den Tisch.
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Opas Krieg dauerte weit länger als bis zum 8. Mai 1945. Aber im Winter 1949 durfte er wirklich nach Hause.
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Je näher ich der Heimat kam, desto aufgeregter wurde ich. (...) Am Bahnhof wurde ich schon erwartet, dort standen mein Stiefvater und ein paar Jungs aus dem Dorf. (...) Zu Hause erwartete mich meine Mutter und nahm mich nach fünfeinhalb Jahren in die Arme – es war der 1. Dezember 1949. (...) Vater machte eine Flasche Steinjäger auf und es wurde auf die Heimkehr getrunken.
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Jahrzehntelang hat mein Großvater nicht über den Krieg gesprochen. Es blieb auch wenig Zeit: Er wurde früh Witwer, zog vier Kinder groß. Wir lebten im Mehrgenerationenhaus – unsere sorglose Jugend war ihm fremd: Partys, Reisen, Internet – und immer verständnisvolle Eltern. Seine Jugend: Krieg, Gefangenschaft, Heimweh. Einsamkeit. Er, der uns nicht immer verstehen konnte – wir, die ihm nicht immer zuhören wollten. Aber Krieg vergisst man nicht. In den letzten Jahren kamen die Erinnerungen hoch: die Soldatenlieder, die russischen Worte. Bis zuletzt hatte er einen wachen Verstand. Der strenge Mann mit dem großen Herz diskutierte: über Putin, über Trump, über Merkels Flüchtlingspolitik. Ob er weniger zu essen bekomme, seit mehr Geflüchtete da seien, fragte ich ihn. „Nein.“ Er lachte verschmitzt, er provozierte mich gerne. Und wann immer wir über „damals“ stritten, sagte er diesen einen Satz, der mich als Jugendliche nervte – in dem aber so viel Wahres steckt.
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Seid euch nicht zu sicher, dass euch so etwas nicht auch passieren kann.
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