Mannheim. Der Ärger war Ende vergangenen Jahres groß, als die MVV ihre neuen Tarife verkündete: Zwar rechneten die meisten Verbraucherinnen und Verbraucher damit, dass Gas und Strom angesichts der Energiekrise teurer werden würden. Doch dass die MVV ihre Grundtarife beim Gas um mehr als 100 Prozent und beim Strom den Verbrauchspreis um 67 Prozent erhöhte, hat viele doch überrascht. Schließlich hatte MVV-Vorstand Ralf Klöpfer im Sommer noch von Erhöhungen zwischen 20 und 40 Prozent gesprochen.
Und so mancher hält die Preissteigerung des Unternehmens, das mehrheitlich der Stadt gehört und im Dezember einen Rekordgewinn verkündete, für nicht gerechtfertigt – zumindest nicht beim Strom, wo die MVV nun knapp 45 Cent pro Kilowattstunde verlangt. Zwar zählt sie damit in der Region zum oberen Mittelfeld der günstigeren Versorger. Dennoch kritisiert etwa Joachim Schubert aus Feudenheim: „Das sind Mondpreise.“
Der Kritiker
Der 72-Jährige beschäftigt sich schon lange mit dem Thema Energie. Denn der studierte Maschinenbauer hat 37 Jahre für BBC beziehungsweise die Nachfolgeunternehmen gearbeitet und als Versuchs-, Schweiß- und Schadensingenieur zahlreiche Kraftwerke untersucht und repariert.
Auch im Ruhestand ist er ein engagierter und informierter Beobachter geblieben. Darum weiß er natürlich, dass die Großhandelspreise für Strom im vergangenen Jahr deutlich gestiegen sind. Er behauptet jedoch: „Die MVV muss für Mannheim und die Region gar keinen Fremdstrom einkaufen.“ Denn ihre eigenen Erzeugungskapazitäten seien groß genug, um den Bedarf zu decken. Darum hält Schubert die Preiserhöhungen für nicht gerechtfertigt.
Der ehemalige Betriebsrat hat folgende Zahlen berechnet: 2022 erzeugte das Grosskraftwerk Mannheim (GKM) eigenen Angaben zufolge 6,5 Milliarden Kilowattstunden Strom. Da der MVV 28 Prozent des Kohlekraftwerks gehören, das für seine Eigner zum Selbstkostenpreis Strom erzeugt, stünden ihr anteilig 1,82 Milliarden Kilowattstunden zu.
Zusätzlich liefere seinen Recherchen nach das Müllheizkraftwerk der MVV auf der Friesenheimer Insel jährlich rund 0,3 Milliarden Kilowattstunden Strom, das benachbarte Biomassekraftwerk des Unternehmens 0,16 Milliarden. Insgesamt verfügte die MVV Schubert zufolge damit im Jahr 2022 in Mannheim über knapp 2,3 Milliarden Kilowattstunden an selbst erzeugtem Strom.
Aus der Stromstudie, die die Industrie- und Handelskammer Rhein-Neckar in Auftrag gegeben und vergangenen Oktober veröffentlicht hat, ergebe sich jedoch, dass in ganz Mannheim im Jahr 2018 rund 2,4 Milliarden Kilowattstunden verbraucht worden sind. Schuberts Schlussfolgerung: „Die MVV könnte Mannheim aus eigener Kraft fast allein versorgen.“ Sprich: Sie müsse gar keinen Strom an der Börse kaufen. „Die MVV Energie AG ist somit zumindest in der Region kein Stromhändler, sondern ein Erzeuger und Versorger mit eigenem Netz und eigenen Preisen“, sagt Schubert. „Sie kauft nur dann kurzfristig Strom an der Börse zu, wenn er günstiger als im GKM wäre.“
Die Preisgestaltung
Und was hieße das für die Preise? Maßgeblich ist Schuberts Ansicht nach der Erzeugungspreis des GKM – weil es der größte und teuerste Produzent sei. Laut Geschäftsbericht sei dessen Erzeugungspreis pro Kilowattstunde Strom 2021 um 6,3 auf 17,3 Cent gestiegen. Die Zahlen für 2022 liegen noch nicht vor. Schubert geht – trotz Ukrainekrieg und Kohleembargo – davon aus, dass das Niveau ungefähr gleich geblieben ist.
Die MVV verlangt seit Januar in der Grundversorgung von ihren Kundinnen und Kunden in Mannheim pro Kilowattstunde knapp 45 Cent – also 18 Cent mehr als im Vorjahr. Das ist für Schubert angesichts des 2021 um rund 6 Cent gestiegenen Erzeugungspreises nicht nachvollziehbar: „Darin steckt meiner überschlägigen Rechnung nach ein ,Übergewinn’ von rund 12 Cent pro Kilowattstunde.“
Die MVV
Dem widerspricht die MVV vehement: „Diese Berechnung basiert auf der unzutreffenden Annahme, dass MVV ihre Kunden ausschließlich mit Strom aus dem GKM versorgt“, teilt eine Sprecherin dazu mit. Dem sei jedoch nicht so. „Richtig ist: MVV ist überwiegend Käufer von Strom und in geringerem Maße Stromproduzent.“ Das Unternehmen beschaffe „einen Großteil der Energie für die Belieferung von Kunden an der Börse“, so die Sprecherin weiter. „Bei der Preisgestaltung sind wir also in hohem Maße von den Preisen auf den jeweiligen Märkten abhängig.“
Sie erklärt zudem: „Der Großteil der im GKM anteilig für MVV erzeugten Energie wird zur Produktion von Fernwärme genutzt, so dass nur ein sehr geringer Anteil dessen am Strommarkt vermarktet werden kann.“ Konkret habe das GKM 2022 1,38 Milliarden Kilowattstunden Strom an die MVV geliefert. Die Nettostromlieferung aus dem Biomasse- und dem Müllheizkraftwerk habe bei jeweils rund 0,15 Milliarden gelegen – auch weil Letzteres seit 2020 Fernwärme erzeuge. Ihre Schlussfolgerung: „Somit war MVV im letzten Jahr von den extrem gestiegenen Strom- und Gasgroßhandelspreisen unmittelbar betroffen.“
Des Weiteren sei zu berücksichtigen, dass auch die Preise für Kohle und CO2-Zertifikate zuletzt gestiegen seien. Darum habe sich das Unternehmen zum Jahreswechsel „leider gezwungen“ gesehen, „die massiven Preissteigerungen auf der Beschaffungsseite an unsere Kunden in der Grundversorgung Strom und Erdgas weiterzugeben“.
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Der Verbraucherschützer
Und was heißt das jetzt alles? Selbst Experten wie Matthias Bauer von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg fällt eine Einordnung nicht leicht: „Für uns sind die Vorgänge nur schwer nachvollziehbar“, sagt er mit Blick auf den Gesamtmarkt. Fast alle Versorger hätten zum Jahresbeginn ihre Tarife über den Wert von 40 Cent pro Kilowattstunde erhöht – ab dem die vom Staat beschlossene Strompreisbremse greift. „Auffällig ist in der Bundesrepublik, dass es massive Energiepreisunterschiede bei Strom und Gas gibt“, sagt Bauer. Während die EnBW in der Grundversorgung etwa 37 Cent verlange, forderten die Stadtwerke München 62 Cent, die in Neuffen gar 92 Cent.
Einerseits müsse man bedenken, dass die Versorger zuletzt für neue Kunden zu sehr hohen Preisen zusätzliche Strommengen einkaufen mussten – etwa, weil deren frühere Anbieter die Belieferung einstellten. Andererseits, sagt Bauer: „Wir wissen auch, dass die Stromerzeuger – und die MVV ist wie die EnBW ein großer Erzeuger – Krisengewinner sind.“ Darum sei es sehr schwierig einzuschätzen, ob ihre Tarife gerechtfertigt sind: „Letztlich können wir nur Mutmaßungen anstellen.“
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