Frankfurt. Ein junger Mensch, der in das Berufsleben startet, hat viele Prioritäten - die Sicherung seiner oder ihrer Altersbezüge gehört in der Regel nicht dazu. Die Frage, ob die Rente reicht, scheint Ewigkeiten entfernt und ist überdies abhängig von Entscheidungen und Weichenstellungen, die noch weit in der Zukunft liegen. Weil mögliche Einschränkungen des erarbeiteten Lebensstandards im Rentenalter aber noch vage bleiben, beginnen viele Berufstätige zu spät damit, für das Alter vorzusorgen. Viele wissen überdies nicht, wie.
Vom Klischee, dass sich die Jugend grundsätzlich nicht für das Thema Finanzen oder die Vermögensbildung interessiere, hält Andreas Hackethal, Professor an der Frankfurter Goethe-Universität und Leiter des Pension Finance Lab am Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung (SAFE), allerdings nichts: „Gerade die Jüngeren, die wissen, dass sie persönlich etwas für ihre Rente tun müssen, beschäftigen sich mit dem Thema durchaus“, sagt er. Für sie haben die Frankfurter Wissenschaftler, gefördert vom Land Hessen, eine kostenlose App mit Namen Seasn entwickelt. Ihre Aufgabe: Finanzentscheidungen zu simulieren, um so einen Blick in die eigene finanzielle Zukunft werfen zu können.
„Seasn hält Ereigniskarten für so ziemlich alles parat, was Dir zustoßen kann“
Dafür wird den Nutzern ein digitaler Finanzzwilling an die Seite gestellt. Das Planspiel soll es ermöglichen, die Auswirkungen von künftigen Ereignissen und Entscheidungen zu simulieren. Von einer „interaktiven Zeitreise in die eigene finanzielle Zukunft“ sprechen die Macher der Anwendung. Mögliche Lebensereignisse und Veränderungen des Umfelds haben sie mit der Wirkung gängiger Vorsorgeprodukte gespiegelt: „Seasn hält dafür Ereigniskarten parat, und zwar für so ziemlich alles, was Dir zustoßen kann“, heißt es: „So kannst Du sehen, ob ein Sabbatical drin ist, wie viel eine Gehaltserhöhung ausmacht und wie sich hohe Inflation oder ein Aktiencrash auf Deine finanzielle Zukunft auswirken.“
Das Durchdenken von Lebensstationen und Investitionsentscheidungen soll erkennen helfen, unter welchen Voraussetzungen die Rente reicht und welche Vorsorge getroffen werden kann. Tausende möglichst realistische Finanzprofile hätten die Entwickler dafür aus Forschungsdaten generiert, erklärt der Frankfurter Finanzprofessor. Nutzer können aus verschiedenen Lifestyles wählen. Das klappt laut App auch als Paar mit gleich zwei Doubles. „Unsere App spricht Menschen ohne großes Vorwissen an, die sich mit dem Thema Finanzen etwas eingehender beschäftigen möchten“, sagt Hackethal.
In einer Umfrage sagt ein Drittel der Teilnehmer, dass das Thema Finanzen bei ihnen Stress auslöst
Hier besteht nach Ansicht der hessischen Landesregierung Handlungsbedarf: Eine vom Land in Auftrag gegebene Studie, der sogenannte Hessenmonitor, habe ergeben, dass das Thema bei etwa einem Drittel von knapp 500 vom SAFE befragten 18- bis 35-Jährigen Stress auslöse. Immerhin 14 Prozent könnten nach eigenen Angaben wegen ihrer Finanzen nicht mehr ruhig schlafen. Nutzer zu erreichen, die Finanzthemen bislang eher aus dem Weg gehen, wird allerdings auch für die neue Anwendung allein vermutlich nicht leicht: „Menschen informieren sich über das Thema Finanzen vielfach im Freundes- und Familienkreis“, sagt Hackethal. Sie orientierten sich an Verwandten und Bekannten, denen sie vertrauen.
Diesen „Familien-Finanz-Coaches“ wolle die neue Anwendung Material an die Hand geben, um die Auswirkungen von Finanzentscheidungen und Ereignissen anschaulich zu machen. „Wir bekommen inzwischen auch Anfragen von anderen gesellschaftlichen Multiplikatoren wie Lehrern oder Mitarbeitern sozialer Organisationen“, beschreibt Hackethal. Typischerweise werde die App von Menschen am Anfang ihres Berufslebens genutzt und von Älteren, die wissen möchten, wo sie beim Thema Altersversorgung stehen. Allerdings sei sie nicht gedacht für Schnellschüsse. „Man muss sich etwas Zeit nehmen“, sagt er.
Die App verspricht absolute Anonymität. Darauf müssen Nutzer vertrauen, wollen sie alle Features nutzen: Möglich ist unter anderem die Verknüpfung mit Bankkonten und Depots. Auch die persönlichen Renteninformationen lassen sich hochladen, ebenso wie abfotografierte Rentenverträge. „Im System werden immer nur Finanzkennzahlen und anonyme Kürzel gespeichert, aber nie Namen oder Adressen“, verspricht Hackethal. „Wir nutzen Erkenntnisse und Feedback für die Forschung“, betont er. „Unser Ziel ist die Verbesserung digitaler Finanzbildung.“
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