Berlin. Lohnverhandlungen sind nie einfach. Doch die derzeitige Situation ist für Jörg Hofmann, Vorsitzender der IG Metall, besonders knifflig: Bis zu acht Prozent mehr Lohn fordert die Gewerkschaft für rund 3,9 Millionen Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie. Auf der anderen Seite steht von Arbeitgeberseite der Vorwurf, die Inflation anzuheizen. Über allem schwebt die Gefahr eines drohenden Gasstopps.
Herr Hofmann, erst Corona, jetzt der Ukraine-Krieg. Kommt die Metall- und Elektroindustrie aus dem Krisenmodus überhaupt noch heraus?
Jörg Hofmann: Wenn ich auf die Auftrags- und Ertragslage der Unternehmen blicke, dann würde ich nicht von einer Krise sprechen. Die Risiken liegen darin, was an externen Störungen auf uns einwirkt. Wir leben in unsicheren Zeiten – aber auf einer aktuell wirtschaftlich guten Faktenlage. Zwar sind die Auftragsbücher voll, trotzdem könnte Deutschland im Falle eines Gasembargos in die Rezession rutschen.
Wie passt in diese Ausgangslage Ihre Forderung nach acht Prozent mehr Lohn für die Metall- und Elektroindustrie?
Hofmann: Die Wirtschaftsinstitute gehen in ihren Basisszenarien nach wie vor von einem positiven Wachstum aus. Gestützt ist das Wachstum auf dem privaten Konsum. Aber schon jetzt geht die Konsumfreude angesichts steigender Preise zurück. Wir müssen alles tun, damit nicht der letzte Ast, auf dem die Konjunktur noch sitzt, verdorrt. Auch deswegen ist eine ordentliche Entgelterhöhung sinnvoll und richtig.
Heizen Sie damit nicht die Lohn-Preis-Spirale an?
Hofmann: Nein. Wenn wir einen Lohnabschluss im Oktober oder im November finden, gestalten wir die Entgeltentwicklung für die Jahre 2022 und 2023. Damit liegt die Forderung auf der Linie der Bundesbank, sich an der Zielinflationsrate und der Trendproduktivität zu orientieren. Acht Prozent verlagert auf diese zwei Jahre ist eine Forderung, die für die Betriebe leistbar ist – und die die Haushalte benötigen. Denn sie werden erst im kommenden Jahr die gestiegenen Preise etwa für Gas richtig zu spüren bekommen. Hinzu kommt: Die Inflation wird auch im kommenden Jahr hoch bleiben und für einen Kaufkraftverlust sorgen. Da müssen wir gegensteuern.
Stringente Karriere
- Jörg Hofmann steht seit 2015 an der Spitze der mächtigsten deutschen Gewerkschaft.
- Die IG Metall ist mit knapp 2,3 Millionen Mitgliedern nicht nur Europas größte Einzelgewerkschaft, sie gilt auch als besonders durchsetzungsstark.
- Hofmann selbst hat dabei eine stringente Gewerkschaftskarriere hingelegt und sich vom Sachverständigen und Sekretär in der IG Metall bis ganz an die Spitze gearbeitet.
- Daneben hat der 66-Jährige, der Vater einer Tochter und SPD-Mitglied ist, Aufsichtsratsmandate bei Bosch und Volkswagen inne.
Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf warnt bereits, dass einzelne Unternehmen pleitegehen könnten. Gerade den Automobilzulieferern gehe es schlecht.
Hofmann: Wir haben Unternehmen, die nicht in der Lage sind, die gestiegenen Rohstoff- und Energiepreise weiterzugeben – das ist aber die Minderheit. Dass wir differenzierte wirtschaftliche Lagen haben, ist nichts Neues. Damit können und werden wir umgehen. Dafür gibt es schon jetzt auch tarifliche Perspektiven und Lösungen.
Wäre für solche Branchen eine Einmalzahlung mit kurzer Laufzeit ein Kompromiss – so wie es jüngst in der Chemieindustrie beschlossen wurde?
Hofmann: Es gab bereits im Februar letzten Jahres eine Einmalzahlung, damit ist dieses Instrument ausgereizt. Jetzt geht es um strukturelle Fragen. Das Preisniveau wird hoch bleiben. Also müssen wir uns auf den neuen Sockel einstellen, wenn der Lebensstandard der Beschäftigten erhalten bleiben soll. Kurzfristig werden wir diesen aktuellen Teuerungsschock aber nicht allein über Tarifpolitik ausgleichen können.
Erwarten Sie Streiks?
Hofmann: Man kann Streiks nie ausschließen, ich halte es gerade in der derzeitigen Situation nicht für wünschenswert. Aber wir werden uns darauf vorbereiten und es ist immer die letzte Option der Gewerkschaften. Ich finde es empörend, wenn Arbeitgeberpräsident Dulger Eingriffe in das grundgesetzlich garantierte Streikrecht fordert. Damit heizt er allein die Stimmung an.
Die Bundesregierung hat die Alarmstufe beim Notfallplan Gas ausgerufen. Ist es richtig, im Fall knapper Energie zuerst die Privathaushalte anstatt die Betriebe zu versorgen?
Hofmann: Es ist eine schwierige Frage, die nicht immer trennscharf zu beantworten ist. Ein Beispiel: Die Mehrzahl der Haushalte in Duisburg ist ans Fernwärmenetz angeschlossen, das von Thyssen Steel eingespeist wird. Schaltet man die Industrie ab, dann bleibt es auch in den Wohnungen kalt. Das ist aber ein Sonderfall.
In vielen anderen Regionen kann man klarer trennen. Wer soll dort am Ende noch Gas erhalten?
Hofmann: Eine warme Wohnung muss als Grundversorgung gegeben sein. Aber es muss erlaubt sein, dass auch hier Energieeffizienz eingefordert werden kann. Die Industrie hat in den ersten Monaten des Jahres bereits 15 Prozent weniger Gas verbraucht als im vergangenen Jahr. Der beste Schutz gegen eine drohende Abschaltung ist das Füllen der Speicher jetzt. Und hier appelliere ich an die Unternehmen, dass sich daran alle beteiligen. Da ist noch bei vielen Betrieben Luft drin.
Was passiert in Ihrer Branche, wenn nicht mehr genug Gas zur Verfügung steht?
Hofmann: Die Energiepreise für fossile Energien werden dauerhaft hoch bleiben. Damit steigt das Preisniveau für Unternehmen und Privathaushalte. Die Energiekosten liegen für einen durchschnittlichen Industriebetrieb der Metall- und Elektroindustrie unter zwei Prozent der Gesamtkosten. Die Größenordnungen sind also erträglich. Die teureren Material- und Einkaufspreise haben im Vergleich dazu eine deutlich höhere Relevanz.
Sind Firmenpleiten unumgänglich, wenn kein Gas mehr aus Russland fließt?
Hofmann: Ohne russisches Gas können Betriebe in den energieintensiven Branchen pleitegehen. Sie hatten oft auch vor der Krise niedrige Margen. Deshalb sollten wir schon jetzt über Schutzmaßnahmen für die Firmen nachdenken – etwa über Überbrückungshilfen ähnlich wie zur Corona-Pandemie oder auch über eine erneute Aussetzung der Insolvenzantragspflicht.
Trotz des Risikos will die Ampelkoalition im kommenden Jahr die Schuldenbremse wieder einhalten. Ist das der richtige Weg?
Hofmann: Ich halte eine Rückkehr zur Schuldenbremse ab 2023 nicht für sinnvoll. Es würde eine faktische Not entstehen, wenn es zu einem Gasembargo kommt. Dann geht es für viele Firmen ums Überleben – und für den Staat damit auch um Einnahmen für die Zukunft.
Braucht es weitere Entlastungen?
Hofmann: Klares Ja. Die derzeitigen Entlastungen sind für das aktuelle Jahr gedacht. Aber 2023 wird extrem belastend für die Privathaushalte. Dann wird es Hilfen brauchen. Ich denke an einen Gaspreisdeckel, eine Entlastung bei der Stromsteuer und an ein weiteres Entlastungspaket mit zielgerichteten Zuschüssen für Personen mit kleinen und mittleren Haushaltseinkommen, also auch Entlastungen für Rentnerinnen und Rentner, Studierende oder Erwerbslose. Diese Maßnahmen müssten entweder noch dieses Jahr beschlossen werden – oder die Schuldenbremse müsste im kommenden Jahr ausgesetzt werden.
Wie könnte ein Gaspreisdeckel aussehen?
Hofmann: Bis zu einem Verbrauch von 8000 Kilowattstunden würde ein Preis festgeschrieben. Darüber hinaus würde wieder der Marktpreis wirken. So wären Anreize für Energieeffizienz geschaffen, zugleich würden kleine und mittlere Einkommen entlastet werden. Im Gegensatz zur Energiepreispauschale wäre das auch eine Hilfe, die beispielsweise bei den Rentnerhaushalten ankäme. Zudem würde ein Gaspreisdeckel die Inflationsrate drücken.
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