Wenn Heimat neu ist

Von 
Jürgen Gruler
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Melisa zeigt am 26.04.2016 in Berlin im Rathaus Neukölln das Heft mit ihrer Einbürgerungsurkunde. Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa (zu dpa «Mit Graubrot und Grundgesetz - Deutsch-Werden in Neukölln» vom 30.05.2016) ++ +++ dpa-Bildfunk +++ © picture alliance / dpa

Seit sieben Jahren kennen wir uns jetzt – und heute kann ich sagen, dass wir Freunde geworden sind. Der Krieg und die Zerstörung in Aleppo hat die kurdische Familie erst in die Türkei und dann zu Fuß über die Balkanroute und Österreich zu uns nach Deutschland gebracht. Zwei Erwachsene und zwei damals kleine Mädchen. Anfangs war die Verständigung zwischen uns schwierig – ein wenig deutsch, ein bisschen englisch und Hände und Füße mussten reichen. In ihrer ersten Wohnung außerhalb der Erstaufnahmeeinrichtung lebten drei Familien mit sieben Kindern – und doch war es gemütlich, wenn jeder seine selbst zubereiteten Speisen auf den Tisch stellte und alle von allem probierten.

Danach wurde der Tisch weggeräumt und die Betten ausgeklappt und wir hatten ein komisches Gefühl dabei in unsere große Wohnung zurückzukehren. Klagen hörten wir nie, immer ein Lächeln und Fröhlichkeit, wenn wir verabredet waren oder man sich auf der Straße traf. Die Kinder konnten schon nach wenigen Monaten perfekt deutsch, die Eltern mussten auf den Sprachkurs warten und lernten im Alltag. Bei Behördengängen versuchten wir zu helfen. Das Schlimmste für den Mann war, dass er zu Hause sitzen musste, nicht arbeiten durfte. Dabei war er Elektriker, hatte in Aleppo sogar eine eigene Firma.

Nach anderthalb Jahren dann endlich die Arbeitserlaubnis und bald eine kleine Wohnung. Auch mit wenig Geld kann man es sich schön machen, wenn man alles selbst macht. Es dauerte kein Jahr, da war der einstige Flüchtling bei der Elektrofirma der Vorarbeiter, hatte die Verantwortung auf der Baustelle und sagte den Kollegen aus Polen und Rumänien, was sie wie machen sollen.

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Stephan Alfter
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Die Pfalz zu erleben, zu wandern, in den Wildpark gehen, mal abends zusammen beim Italiener Pizza essen, in der Weinstube oder auf der Hütte einkehren – das alles waren neue Erlebnisse für die junge Familie. Bald kam noch ein Junge dazu, er bekam den deutschen Namen Julian – ganz bewusst, weil man ja jetzt in Deutschland lebe, sagte die Mama.

Allmählich entwickelte sich die Sprache in ihren Feinheiten, auch ein Witz mit hintergründigem Humor kann jetzt verstanden werden, in der Schule feiern die Mädchen erste Erfolge, die Ältere kommt ins Gymnasium, soll vielleicht sogar eine Klasse überspringen, die Jüngere ist ein echtes Bewegungs- und Turntalent. Plötzlich haben wir dann eine Einladung bekommen – zur Einbürgerungsfeier im Historischen Ratssaal in Speyer. Jeder Neubürger durfte zwei Gäste mitbringen, wir fühlten uns geehrt.

Alle waren festlich gekleidet, die Oberbürgermeisterin hieß die Menschen willkommen, sprach über Flucht und Sorgen und über die Freude, gut 50 neue Speyerer begrüßen zu dürfen. Jeder bekam seine eigene Urkunde mit dem Bundesadler und ein kleines Geschenk, dann haben sich alle erhoben und auf das Grundgesetz geschworen – das täte vielleicht auch manchen Urdeutschen mal wieder gut – und man sang die Nationalhymne zusammen. Ein wirklich bewegender Moment.

Unsere Freunde haben gleichzeitig die syrische Staatsbürgerschaft abgelegt, wir haben den Tag im deutschen Biergarten ausklingen lassen und uns gefreut, dass diese Familie in ihrer neuen Heimat angekommen ist und sich offensichtlich sehr wohlfühlt.

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