Benjamin von Stuckrad-Barre hat nicht, wie behauptet wird, einen Schlüsselroman geschrieben. Es ist ein anspruchsvolles literarisches Buch – mit Racheeffekt. Am 3. Mai liest er aus „Noch wach?“ im Heidelberger Karlstorbahnhof.
Bei der ersten Präsentation des Buches war Reinkommen alles, das Berliner Ensemble war ausverkauft. Der einstige Posterboy der Literaturszene nimmt das cool zur Kenntnis, als er im blauen Ringelshirt und weißer Hose an seinen Platz geht. Es beginnt eine One-Man-Show. Stucke, wie Insider den Dichter rufen, liest aus seinem gut geschriebenen Buch, bricht ab, redet, gestikuliert, scherzt, zündet sich eine Zigarette an, drückt sie nach wenigen Zügen aus. Er sorgt für viel Spaß im Publikum, für ständiges Auflachen und Spannung. Deshalb sind sie ja alle gekommen, Schauspieler wie Katja Riemann oder Jan Josef Liefers und ein Riesenrudel von Journalisten.
Von der Kunstfreiheit gedeckt
Stucke hat einen Roman über seinen „Freund“ geschrieben. Er war sein „ALLERBESTER Freund“, betont er in Großbuchstaben im Buch. Das macht er mit Ironie, aber in Wahrheit mit Kälte und sogar Herablassung.
Das kann dem Freund nicht gefallen. Er heißt Mathias Döpfner, CEO von Springer, dem größten Medienverlag Europas. Sein Name taucht natürlich nicht auf, ein Roman braucht nicht so viel Genauigkeit. Aber alle wissen doch, wer gemeint ist. Stucke traut sich was, der Freund könnte doch zurückschlagen, das wird im Saal beraunt. „Alles von der Kunstfreiheit gedeckt“, beruhigt der Schriftsteller. Es ist eine toxische Show, eine Erzählung aus dem Hort der Finsternis.
Journalist und Autor
- Benjamin von Stuckrad-Barre ist geboren am 27. Januar 1975 in Bremen.
- Nach dem Abitur in Göttingen zieht er zum Germanistik-Studium nach Hamburg, das er allerdings bald abbricht.
- Er ist als Journalist und Autor tätig, unter anderem bei der Zeitschrift „Rolling Stone“ und für die „Harald Schmidt Show“. Von 2008 bis 2018 ist er für Zeitungen der Axel Springer AG tätig.
- 1998 erscheint sein Debütroman „Soloalbum“, der 2003 auch verfilmt wird.
- Mit der „Noch wach?“-Tour macht der Autor am Mittwoch, 3. Mai, um 19 Uhr auch Station im Karlstorbahnhof in Heidelberg. Die Veranstaltung ist allerdings schon ausverkauft.
Wahre Männerfreundschaft
Die Freunde waren Intimfreunde, kein Haar fusselte zwischen ihnen. Der CEO ist 60, fast eine Vaterfigur für den 48 Jahre alten Stucke. Er soll angeblich 40 000 Euro pro Monat von ihm bekommen haben, weil man sich so gut fand und der Dichter im „Kerngeschäftsdreck“, so heißt es im Buch, mitgearbeitet hat, wenn auch nur gelegentlich. Als Elon Musk in Brandenburg war, wurde Stucke vom Freund gebeten, er möge ihn mit dem Milliardär filmen. Das wurde dann im Springer-Fernsehsender der Welt gezeigt, Visionäre beieinander.
Viel wichtiger war, dass die Freunde nach Hollywood gingen, im Buch sind „Szenen einer Liebe“ beschrieben. Sie tragen die gleichen Anzüge und fahren von Los Angeles nach San Francisco, wobei sie viel über ihre Biografien sprechen, bis sie erstarren. In der Schweiz, in Sils Maria, befinden sie sich auf dem Dach einer Ruine – „Arm in Arm“. Stucke schreibt, da „liegen wir zusammen im Hotelbett, schauen diesen italienischen Film, dessen Namen wir uns nie merken konnten“. Natürlich „komplett bekleidet, beide zutiefst melancholisch, aber zusammen geht’s“. Männerfreunde, aber warum nur auf Zeit? Stucke erzählt, dass sich die Affären mit Mitarbeiterinnen und Abhängigkeitsverhältnissen vermehrten, manche der Frauen wurden befördert, die meisten gemobbt. Viele Namen werden im Buch genannt, nur mit Vornamen, abgesehen von Julian Reichelt. Der war auch ein Freund vom Freund. Er, Stucke, habe von den Sauereien gehört und seinen ALLLERBESTEN Freund gebeten, etwas zu tun. Der weigerte er sich, weil Reichelt als Antreiber, Kämpfer und Chefkanone gebraucht wurde. Die Bild-Zeitung ist nun nicht mehr das, was sie mal war im Krieg gegen die böse links verseuchte Welt. Die Frauen hätten getan, was sie getan hatten. Wie etwa Sophia, die habe der Reichelt geliebt, einige Zeit zumindest, und die sei freiwillig mit dem notgeilen Fummler in sein Bett gestiegen, weil sie ihn für so charismatisch hielt.
Geschriebenes Kunstwerk
Benjamin von Stuckrad-Barre hat ein raffiniertes Buch geschrieben, es ist ein Wechselspiel von literarischer Qualität. Kein Schlüsselroman, eine tragische Menschheitsgeschichte. Indem er von der Freundschaft ausgeht, erzählt er, wie er in den Mief geriet und sich herauszappelte. Aus einer immer noch unfassbaren Macho-Kultur, Chauvinismus und Weggucken.
Es ist ein Roman im Eigenleben einer Realität, die mit Macht und Ruhm zu tun hat. Das Faszinierende daran ist, dass es noch nicht die ganze Geschichte ist – und wenn doch, dann verdeckt beziehungsweise „von der Kunstfreiheit gedeckt“. Der Roman ist ein geschriebenes Kunstwerk, anregend zu lesen am Rand des Wahnsinns.
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