Regelmäßig treffen sich drei ins Abseits geratene Desillusionierte mit ihren Angehörigen zur Tafelrunde. Hier erklären sie einander sich und die Welt, wobei keiner ganz die Vorsicht vergisst. Es war ein Land, in dem sich jeder vor jedem in Acht nahm, bis in den privatesten Winkel. Aus diesen Tischgesprächen und um sie herum lässt Christoph Hein mit vielfältiger Personage die Geschichte des gewesenen Landes DDR als großes Panoramabild erstehen, wobei sich Hein als deren unbestechlichster Chronist im Breitwandformat erweist. Markante historische Zäsuren rückt er ins Bild: den 17. Juni 1953, Chruschtschows Geheimrede zur Entstalinisierung, den Mauerbau, den Prager Frühling, Machtspiele zwischen Honecker und Ulbricht bis hin zur Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989, wo auch Hein eine Rede hielt, in der er den Begriff Heldenstadt für Leipzig vorschlug.
Die drei wollten ein besseres Deutschland gestalten, nachdem sie aus dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrt waren. Oder aus dem Exil. Oder aus der Umerziehung im Lager Workuta. Und sie hatten ihre Überzeugungen, wie das gehen sollte. Johannes Goretzka hatte sein Bein und damit seinen Hurrapatriotismus verloren, um zum Parteisoldaten des Neuen zu werden. So wurde er vom glühenden Nationalsozialisten zum Bewunderer Stalins.
Als sehr frühes SED-Mitglied und promovierter Techniker stieg Goretzka auf zum Abteilungsleiter im Ministerium für Schwermaschinenbau. Seinen Idealen folgte er humorlos bis zum Starrsinn. Er lernte die alleinerziehende Yvonne kennen, die den 18 Jahre Älteren wegen des Nachkriegsmännermangels nahm und weil er ihr als sicherer Versorger erschien. Liebe sieht anders aus. Selten hat man in einem Roman von einem hölzerneren Kennenlernen gelesen. Als Prinzipienreiter drängt er sie zu einer Parteikarriere, ohne auch nur entfernt zu ahnen, wie schnell er selbst in Ungnade fallen würde. Dauerhaft und unverdient.
Scharfsichtiger Protokollant ostdeutscher Verhältnisse
Ökonomieprofessor Karsten Emser war beim Berliner Magistrat für das Wirtschaftsressort zuständig und wurde Mitglied des Zentralkomitees der SED. Die Nazis hatten ihm 1935 seine Professur in Kassel genommen, später verlor er an das Fleckfieber Frau und Kind. Auch er heiratete eine deutlich jüngere Frau. Rita wurde Yvonne Goretzkas Vorgesetzte, sexuelle Feldforschungen inklusive. Auch Karsten Emser hatte eine eigene Meinung. Nachdem er diese Mitte der 1960er Jahre öffentlich vertreten hatte, wurde er zum großen Schweiger gemacht.
„Man darf nie gegen die Partei recht haben, denn sie allein hat immer recht.“ Das weiß auch Professor Benaja Kuckuck. Der ist von den Dreien der eloquenteste, ein kleiner Mann mit Glatze, der gern ein bisschen provoziert. Der Shakespeare-Experte musste wegen seines jüdischen Vaters 1935 die Universität in Tübingen verlassen, ging ins Exil nach Frankreich und England, erfuhr viel Anerkennung und noch mehr Ablehnung, weil er früh in die Kommunistische Partei eintrat. In Ost und West war er nach dem Krieg verdächtig, ging in die DDR, die ihn auf einem Abstellgleis des Kulturbetriebs parkte. Damit jemand ein Auge auf ihn hatte, wurde Yvonne Goretzka seine Stellvertreterin. Des Lebensstandards wegen blieb er der Sache treu und auch, weil er nicht auffallen wollte mit seiner Neigung zu Männern.
Gemäß dem Goethe‘schen Motto, wonach der treuliche Protokollant antritt gegen die Leugnungen der Nachwelt, erfüllt Christoph Hein seinen Auftrag, das Pervertieren eines Menschheitstraums chronologisch in seinen erzählerischen Rahmen zu zwingen. Dazu häuft er viele Fakten, bändigt den Stoff mit Tempo und baut historische Ereignisse in seine Handlung. Dabei schafft er es souverän, keine seiner Figuren zu denunzieren. Mit lakonischer Sprache entwickelt Hein aus der Kraft der Ruhe sein Opus magnum eines Gesellschaftsromans. Dabei ist es faszinierend, wie man sich von einem scheinbar biederen Erzählfluss widerstandslos einfangen lässt. So erweist sich Hein ein weiteres Mal und in so noch nicht dagewesener Üppigkeit als scharfsichtiger Protokollant ostdeutscher Verhältnisse.
Zum Autor Christoph Hein
- Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs.
- Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab.
- Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin . Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle „Der fremde Freund / Drachenblut“.
- Hein wurde mit zahlreichen Preise n ausgezeichnet, u. a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis.
Wieder bringt er dazu seine schmuckfreie Sprache in Stellung. Diese Prosa liest sich, als blieben die jeweils ersten Attribute und Verben stehen. Die Notdurft wird verrichtet, das Zimmer wird schluchzend verlassen, das Essen wird eingenommen und so weiter. Irgendwann begreift man jedoch beim faszinierten Lesen, wie präzise aus dieser kargen Art des Erzählens die Objektivität des Berichts erwächst, dem so nachträglich Geschöntes verweigert wird. Vielleicht entspringt genau hier die Quelle für die Genauigkeit des Textes? Er handelt vom Pervertieren der Ideale, von Bestrafungen für Abweichlertum und den Verquickungen von Gesellschaftlichem und Privatem. Das driftet ins Klischee, wenn es um die bundesrepublikanische Wirklichkeit geht, doch erweist sich Hein bis dahin als unbedingt geeigneter Kronzeuge.
Irgendwann war die übersichtliche Trennung in Freund und Feind verschwunden. Irgendwie machte die Zeit aus allen Narren. Irgendwo saßen die auf dem titelgebenden Narrenschiff. Christoph Hein erweist sich da als Erbe seines mittelalterlichen Kollegen Sebastian Brant, der seine Helden auch unterwegs in ein erträumtes Land die Richtung verlieren ließ.
Zum Buch
Christoph Hein: „Das Narrenschiff“
Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin. 752 Seiten. 28 Euro.
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